Willkommen bei Daystory – deiner Geschichte für den Tag
Bei den Daystorys handelt es sich um kurze Geschichten, die hoffentlich zum Nachdenken und Diskutieren anregen.
Die Idee dazu kam mir durch eine andere Autorin, die in ihrem Bolg dazu aufrief 10 Geschichten in 30 Tagen zu schreiben. Ich war zu dem Zeitpunkt noch nicht bereit, aber vielleicht schaffe ich ja die 10.
Mir hatte aber eigentlich der Gedanke gefallen, sehr kurze Geschichten zu schreiben. So kurz, dass man sie mal schnell in der Bahn lesen kann oder beim Warten auf den Bus.
Daystory 1
Es gibt Menschen die ganz selbstverständlich Rücksicht nehmen und die, die von sich selbst glauben rücksichtsvoll zu sein.

Daystory 1
Tobias hielt sich immer für einen rücksichtsvollen Menschen. Er war für den Atomkraftausstieg, gegen die Massentierhaltung und Rüstungsexporte, für Flüchtlingsintegration und Fair-Trade-Handelsabkommen, gegen Umweltverschmutzung und Auslandseinsätze. Er dachte immer daran, was für alle gut war. Darum konnte er gar nicht verstehen, warum seine Nachbarin, die unter ihm wohnte, ihm einen so erbosten Brief unter der Tür durchgeschoben hatte. Ja sie war schon das ein oder andere Mal bei ihm gewesen. Nach seiner Abschiedsparty letztes Jahr, er war für sechs Monate nach Thailand gegangen, war sie auch gekommen. Er hatte ihr vorgeschlagen Ohrstöpsel zu benutzen. Doch sie hatte gemeint, dass sie dann das Kind nicht mehr hören würde, wenn es schreit. Also schlug er vor, dass sie das Kind mit in ihr Bett nehmen sollte. Woraufhin sie entrüstet erwiederte, dass ihr Kind ein eigenes Bett hat, in dem es schlafen kann und will. Sie hatte konsequent darauf bestanden, dass er wenigstens in den Ruhezeiten leise sein sollte. Und er hatte sich schließlich damit einverstanden erklärt. Ihm jetzt mit der Hausverwaltung zu drohen, war doch wirklich übertrieben. Wütend pfefferte er seinen, mit Werkzeugen, Thermoskanne und Arbeitsschuhen befüllten Rucksack neben das Sofa. Was machte er denn schon, was so laut sein sollte? Der neue Nachbar über ihm, der war wirklich laut und rücksichtslos.
Sein Magen knurrte. Er hatte den ganzen Tag noch nichts gegessen. Er schaute auf die Uhr und sprang auf. Es war kurz vor zehn, er musste sich beeilen, wenn er noch einkaufen wollte. Glücklicherweise hatte er die Schuhe noch an. Hätte er einen Teppich auf dem schönen Parkettboden, müsste er sie jetzt erst wieder anziehen. So schnappte er sich den Schlüssel knallte die Tür hinter sich zu und rannte zum Supermarkt.
Hmm, das war lecker und jetzt noch ein paar Rhythmusübungen auf den Bongos, dachte er, als er zwei Stunden später die Küche verließ. Selbst kochen kostete zwar Zeit, aber es schmeckte einfach viel besser. Er stapfte in seinen Adidas-Badelatschen ins Schlafzimmer, warf ein Kissen auf den Boden, setzte sich darauf und stellte die Trommeln vor sich. Kurz dachte er an den Brief, aber morgen war Sonntag. ‚Sie kann doch ausschlafen.‘
Er hatte sich gerade richtig eingegroovt, als er unten das Baby seiner Nachbarin schreien hörte. ‚Soll sie dem erst Mal Rücksicht beibringen‘ dachte er, während er ins Wohnzimmer umzog. Aus dem Augenwinkel stellte er fest, dass es bereits halb zwei war. Er musste auch noch etwas aufräumen und beschloss deshalb am nächsten Tag wieder zu üben. Schnell zog er den Unterbau seines selbstgebauten Podests hervor. ‚Mit Teppich würde das gar nicht gehen‘ nahm er an, aber das Schleifen über den Boden war ja auch kaum zu hören. Sein Nachbar oben dagegen, rückte ständig die Möbel umher und knallte schwere Sachen auf den Boden. ‚Vielleicht hört sie ja seinen Lärm‘ dachte er, während er seinen Rücksack in die Kiste fallen ließ. Dann rannte er in die Küche, um die Thermoskanne wegzubringen. Wieder zurück stellte er fest, dass noch ein Glas auf dem Schreibtisch stand und er brachte auch dies schleunigst in die Küche. Eilig warf er noch die Bongos und seine Übungskeulen rein und schob dann den Unterbau wieder in seine Position. Ihm fiel auf, dass das Podest mal wieder gesaugt werden musste. Deshalb hasste er Teppiche, ständig musste man sie sauber halten. Das würde er morgen machen, entschied er und ging ins Bett. Glücklicherweise hatte das Balg aufgehört zu schreien. Letzte Nacht hatte das Gör bis vier Uhr nachts immer wieder angefangen zu schreien. Das hatte so sehr genervt, dass seine Freunde sich schließlich verabschiedet hatten. Dabei war es ein netter Abend gewesen. Sie hatten gelacht, geredet, etwas Musik gehört und als die Tussi von unten kam, haben sie sogar die Musik ausgemacht. Das war eigentlich total schön. Wenn nur nicht dieses Gör ständig geschrien hätte. Sie hatten dann selbst gesungen und Musik gemacht. Sein Freund Vincente war ein echt guter Gitarrenspieler. Das musste er noch üben. Er machte sich eine gedankliche Notiz und schlief ein.
Nach einem ausgedehnten Brunch, schleifte er den alten Staubsauger aus der Abstellkammer ins Wohnzimmer. Der Staubsauger hatte schon bessere Zeiten gehabt, darum musste er eine ganze Weile mit den Borsten schrubben. Vor allem an den Wänden entlang. Als es plötzlich an seiner Tür hämmerte, war er aber fast fertig.
„Kannst du mir mal sagen, was du an dem Brief nicht verstanden hast?“, schnauzte seine Nachbarin, sobald er die Tür geöffnet hatte. Verwirrt schaute er auf das Baby in ihrem Arm. Es sah ziemlich verheult aus. „Mal ganz davon abgesehen, dass es Sonntag ist, ist jetzt Mittagsruhe. Ich habe gesagt, dass von dreizehn bis fünfzehn Uhr ihr Mittagsschlaf ist. Diese Ruhezeit steht auch in der Hausordnung! Wenn du es nicht schaffst dich anzupassen, dann solltest du vielleicht wieder in den Wald ziehen, aus dem du gekommen bist!“ Das Kind in dem Schlafsack drückte den Kopf gegen ihre Schulter. So wie die herumschrie, war es ja kein Wunder, dass das Kind nicht schlafen konnte. ‚Wer weiß, wie die das Kind behandelt. Das ist ja total eingeschüchtert‘ ging es ihm durch den Kopf. „Ich bin jetzt auch fertig.“, sagte er schicht. Sie warf ihm einen bösen Blick zu und ging wieder die Treppe hinunter. ‚Wenn ich die nur einmal schreien höre, rufe ich das Jugendamt an‘ nahm er sich vor, als er die Tür schloss und sich wieder seinem Staubsauger widmete.
Daystory 2
Enttäuscht sah George auf seinen Monitor an der Wand. So sollte das nicht laufen. Das lief einfach aus dem Ruder.
Er nahm den Hörer ab, um das Reinigungsteam zu informieren, damit die Sauerei schleunigst bereinigt wurde. Auf keinen Fall durfte das in der Öffentlichkeit bekannt werden. Obwohl…

Daystory 2
„Na, wie läuft’s?“ Seine Kollegin Charlotte steckte den Kopf rein und George ließ den Hörer wieder sinken. Als sie das Chaos auf dem Bildschirm entdeckte, trat sie schnell ein und schloss die Tür hinter sich ab.
„Wie ist das denn passiert?“ Gebannt starrte sie auf das Geschehen.
„Ich habe keine Ahnung. Es war nur eine minimale Veränderung der Lebensumstände im Habitat, um die vorhandene Anpassungsfähigkeit zu testen. Wer konnte denn davon ausgehen, dass so was passiert?“ Er dachte einen Moment nach. „Meinst du, wir haben übertrieben?“, gab er dann seinen Gedanken preis. Charlotte schüttelte entschieden den Kopf.
„Ach komm, das ist die neue Generation, die steckt noch im Entwicklungsstadium.“ Wieder starrten beide auf den Monitor.
„Scheiße!“, brüllten George und Charlotte gleichzeitig und wichen entsetzt vom Schreibtisch zurück. Charlotte fasste sich als Erste wieder.
„Was ist mit der Kontrollgruppe?“ George schüttelte resigniert den Kopf und deutete auf den Monitor.
„Mitten drin! Das da ist das Alphamännchen und wie du siehst folgt der größte Teil der Herde ihm.“ Das Alphamännchen gehörte nicht zur neuen Generation, sondern hatte sich seine Vormachtstellung gegen alle neu angesiedelten Rivalen erkämpft. George überlegte krampfhaft, was er tun sollte, als eine neuerliche Veränderung der Lage ihn aufschreien ließ. „Mist, Mist, Mist, was machen die denn da?“ Verzweifelt griff er wieder zum Hörer, doch Charlotte hielt ihn auf.
„Was hast du vor?“ Ihr Ton gierte nach mehr Aufregung.
„Na das Reinigungsteam rufen.“
„Willst du deine Karriere gleich heute noch begraben?“, mit Nachdruck nahm sie ihm den Hörer aus der Hand. George schüttelte den Kopf und beide beobachteten weiter die Vorgänge im Habitat.
„Hast du nicht eines dieser anomalen Exemplare in der Gruppe?“ fiel Charlotte plötzlich ein. Er nickte, obwohl er nicht verstand, worauf seine Kollegin hinaus wollte. „Hat das vielleicht was damit zu tun?“ Bedeutungsvoll schaute sie ihn an.
„Nein, ich habe alle Aufzeichnungen kontrolliert. Da war keine Aktion, um so etwas hervorzurufen. Es selbst hatte allerdings keine Probleme sich anzupassen.“ Charlotte nickte verstehend.
„Kannst du es ihm nicht irgendwie in die Schuhe schieben? Du verstehst schon: die Irregularität hat das Problem hervorgerufen.“, schlug sie vor, doch George musste auch diese Idee ablehnen. Er erklärte ihr, dass er anhand der Aufzeichnungen lediglich nachweisen könne, dass sie, also die Anomalie, versucht hatte, die Anderen auf die Veränderung aufmerksam zu machen. Sie hatte sogar versucht den anderen zu zeigen, wie damit umzugehen war. Dass der Rest einfach nicht verstanden hatte, was sie wollte, war wirklich nicht ihre Schuld.
„Na siehst du, es hat die Anderen durcheinandergebracht. Ist doch klar, dass so ein Ding sich nicht anpassen kann! Wo ist es denn jetzt?“ Innerlich schüttelte George den Kopf, irgendetwas lief hier falsch und nicht nur im Habitat.
„In… seiner Box. Seit die neue Generation eingepflegt wurde, hat es sich immer mehr zurück gezogen. Kaum noch Interaktion mit den Anderen, nur vereinzelt mit welchen aus der Kontrollgruppe.“
„Oh, Shit.“ Charlotte hatte den Monitor, der eine magische Anziehungskraft auf sie auszustrahlen schien, nicht aus ihren Augen gelassen. „George, das wird übel. Drei tote Versuchsexemplare an einem Abend, ohne dass eine Ausdünnung des Bestands geplant war, ist…Oh Mann, das sieht nicht gut für dich aus.“ Das musste sie ihm nicht erst sagen. In Gedanken sah er sich schon den Schreibtisch abräumen. „Du musst dir was einfallen lassen, um dem Sonderfall das unterzuschieben. Wenn das klappt, bist du den auch los.“
„Geht nicht. Du weißt doch, Anomalien werden nur vernichtet, wenn sie nicht zur Fortpflanzung ausgewählt wurden.“ Charlotte starrte ihn mit offenem Mund an.
„Alter, du hast aber auch ein Glück. Soll das heißen, du musst jetzt darauf aufpassen, bis es sich fortgepflanzt hat?“
„Sie ist schon trächtig.“, antwortete er. „Das macht es nicht einfacher, denn jetzt muss ich auf sie und das Junge achten.“ Mitfühlend tätschelte Charlotte seine Schulter. Dann kam ihr ein Gedanke.
„Bist du sicher, dass du es nicht so drehen kannst, als wäre das Ding daran Schuld? Dann wird es umgesiedelt und du bist beide Probleme los. Ich verstehe sowieso nicht, warum diese Abarten sich fortpflanzen sollen. Wenn du mich fragst, sollten die ganzen Viecher sofort vernichtet werden. Die bringen noch das ganze Projekt zu Fall.“
Während Charlotte lamentierte sah George das Reinigungsteam ankommen und die restlichen Versuchsexemplare in ihre Boxen zurück treiben. Hatte er doch angerufen?
Nein, denn schon ging die Sprechanlage an und sein Vorgesetzter meldete sich ungehalten.
„Was denken Sie George, wie viele Tote braucht es, um die Unfähigkeit beider Generationen zur Anpassung auf sich verändernde Lebensumstände zu beweisen? Und Sie Charlotte sind der lebende Beweis, warum Anomalien für den Genpool der wertvolleren Klasse wichtig sind. George, ich erwarte ihren Bericht morgen früh als Erstes auf meinem Schreibtisch vorzufinden.“ George nickte.
„Nur eins noch: Welche Änderung hatten Sie vorgenommen?“
„Die Klinke an der Haustür wurde gegen einen Drehknauf getauscht.“
Daystory 3
„Weiser Fest-wie-ein-Berg, der Priester sagt, dass Weht-wie-ein-Blatt-im-Wind der Gesandte Gottes ist und wir ihm folgen müssen, um diese Dürre zu überstehen.“ Fest sah das kleine Mädchen nachdenklich an. Wie hieß sie gleich nochmal? Es waren so viele geworden, Jahre die hinter ihm lagen und Kinder die bei ihm Rat suchten.
„Und was denkst du, mein Kind?“, fragte er daher.

Daystory 3
„Ich weiß es nicht, aber wenn es nicht bald regnet, werden die Pflanzen verdorren und wir haben im Winter nichts zu Essen.“ Gab die Siebenjährige zu bedenken.
„Und denkst du, dass der Gott des Priesters uns Regen schicken wird, wenn wir tun, was der Priester will?“
„Ich weiß nicht, gibt es denn einen Gott?“ Sie schaute ihn fragend an und Fest seufzte innerlich.
„Ich weiß es auch nicht. Vielleicht. Was denkst du?“
„Ich habe ihn noch nie gesehen, also nein. Aber ich habe auch viele der Dinge, die die Forscher behaupten noch nie gesehen.“
„Und denkst du, dass der Priester mehr weiß, als alle unsere Forscher?“ Ihre Antwort kam zögernd.
„Nein, aber keiner von ihnen kann uns helfen. Vielleicht ist das die Strafe des Gottes, weil wir nicht auf den Priester hören.“ Überlegte das Kind und der alte Mann musste lächeln.
„Komm, setz dich zu mir, ich will dir eine Geschichte erzählen.“ Fest wartete bis sie sich ein weiches Sitzkissen herangeholt und unter dem Sonnenschirm neben ihm Platz genommen hatte. „Vor vielen tausend Jahren, lebten einmal zwei Brüder.“, begann er zu erzählen.
„Der Ältere was ein starker Jäger und listiger Fallensteller. Nennen wir ihn den Krieger. Der Jüngere war ein schmächtiger Eigenbrötler, der gern alles in seiner Umgebung beobachtete und analysierte. Nennen wir den, den Beobachter. Der Krieger war hungrig nach Macht.“ Er sah den fragenden Blick des Kindes und erklärte das näher. „Er wollte die Jagd leiten und alle Jäger sollten auf ihn hören. Der Beobachter jedoch hatte Probleme sich der Anfeindungen der anderen Stammesmitglieder zu erwehren. Gerade die Jäger beschimpften ihn als nutzlos, weil er für die Jagd ungeeignet war. Doch sein Bruder beschützte ihn, denn mit seinen Beobachtungen half er dem Krieger immer wieder. Er konnte ihm verraten, wo die Fallen aufgestellt werden mussten und wo die Beutetiere am wahrscheinlichsten zu finden sein würden. Durch dieses Wissen wurde der Krieger schnell Anführer des Jagdtrupps und keiner durfte seinen Bruder mehr beleidigen.“ Fest machte eine kurze Pause, um tief Luft zu holen.
„Wäre es dabei geblieben, wäre es zum Wohle des ganzen Stammes gewesen, aber sehr bald war es den Brüdern nicht mehr genug. Der Krieger wollte Anführer des Stammes werden und der Beobachter wollte sich für die Jahre der Beleidigungen rächen. Die beiden schmiedeten einen Plan. Der Beobachter würde alle Ergebnisse seiner Beobachtungen als die Eingaben einer größeren Macht ausgeben. Diese, so behaupteten die beiden, sei der Erschaffer der Welt, des Universums und der Menschen. Aber er, der Name, den die beiden dem Gott gegeben hatten, ist über die Jahrtausende verloren gegangen, hätte den Beobachter auserwählt, um seine Botschaft zu überbringen. Die Botschaft lautete: Wenn der Stamm seinen Geboten folgte, würde er alle ihre Wünsche erfüllen. Und das erste Gebot war, dass nur der Gott den Anführer bestimmen konnte. Natürlich wurden die beiden anfangs belächelt, denn auch wenn der Krieger der beste Jäger war, so sah ihn doch keiner als den Anführer des Stammes an. Doch der Zeitpunkt war gut gewählt, denn der Beobachter sagte, wenn sie sich nicht binnen drei Tagen zu ihrem neuen Anführer bekennen würden, würde der Gott die Sonne verdunkeln und sie müssten für immer in Dunkelheit leben. Heute wissen wir natürlich, dass eine Sonnenfinsternis ein ganz natürlicher Vorgang ist, damals jedoch, gab es noch keine Forscher. Als die Sonnenfinsternis also eintrat, bekamen die Stammesmitglieder Angst und unterwarfen sich den Brüdern.
Der Beobachter erließ nun viele Regeln im Namen des Gottes, um sich an den anderen zu rächen und sie zu gängeln. Denn die Einhaltung und Auslegung der Regeln oblag einzig ihm. Auch die Bestrafung bei Nichtbefolgung, konnte er ganz allein bestimmen. Schnell hatten beide Brüder angefangen sich die besten und größten Essensanteile zuzusprechen, die schönsten und größten Felle zu verlangen und die schönsten Mädchen untereinander aufzuteilen. Sollte eine der Frauen widersprechen, wurde sie vor dem versammelten Stamm als Abtrünnige getötet. Ebenso erging es den jungen Männern, die zu stark, oder geschickt bei der Jagd waren und auch allen, die auch nur leise Kritik an der Herrschaft der Brüder äußerten.
Ein paar Jahre gingen ins Land und der Stamm war durch die Verluste sehr geschwächt, als sie auf der Suche nach einem neuen Jagdrevier auf einen anderen Stamm trafen. Niemand weiß, ob die Brüder inzwischen selbst an ihre erdachte Gottheit glaubten, oder die stärke des anderen Stammes schlichtweg unterschätzten, aber sie ließen ihr auserwähltes Volk in den Kampf ziehen.
Der Stamm und die Brüder wurden vernichtet. Einzig die Kinder nahm der andere Stamm mit sich.“
Daystory 4
‚Christine es ist Zeit aufzustehen!‘
Christie wurde von dem penetranten Summen in ihren Ohren und dem immer heller werdenden Licht hinter ihren Augenlidern geweckt. Seit zwei Jahren hatte sie die obligatorischen Implantate jetzt schon, aber noch hatte sie sich nicht daran gewöhnt. Vielleicht würde es ihr besser gehen, wenn sie sie eher bekommen hätte. Ihre Schwester war sechs Jahre jünger und hatte die Implantate am selben Tag bekommen. Seit diesem Tag wurden allen die Chips schon mit zwölf eingesetzt. Dana kam hervorragend damit zurecht.
Während sie gezwungenermaßen die Augen öffnete, damit dieses verdammte Strahlen aufhörte, fing das Implantat in ihrem Ohr an ihr die Zusammenfassung ihrer Lifecoins, ihre täglichen Aufgaben, um diese zu vermehren und mögliche Verdienstmöglichkeiten für weitere Coins aufzulisten.

Daystory 4
Als sie unter der Dusche war, erzählte Sirian, so der Name der Chipstimme, ihr von ihren Verfehlungen. Alle samt geahndet durch Coinabzüge. Mist, sie hatte gestern Abend echt viele Coins verloren, weil sie eine Flasche Wein getrunken hatte. Einerseits war die Flasche extrem teuer gewesen, so wie Alles, was für ungesund bewertet wurde. Andererseits, weil sie für das tatsächliche Trinken den Weins noch einmal Lifecoins abgezogen bekam. Die Auflistung der erwünschten ‚Ausgleichsmaßnahmen‘ reichte von Joggen, über biogenetische Produkte konsumieren bis hin zu Pflegedienst auf der Alzheimerstation. Christie wusste, dass dies alles ihr nur helfen sollte, ein gesundes Leben zu führen, aber verdammt es war nur eine Flasche Wein! Die sollten sich mal wieder einkriegen. Doch es kam noch schlimmer. ‚Du hast in den letzten zehn Tagen drei Flaschen Wein getrunken. Um einem potenziellen ICD-10 entgegenzuwirken, habe ich einen Termin bei der Sucht – und Drogenbekämpfung für dich vereinbart. Solltest du den Termin nicht wahrnehmen, werden dir weitere zweihundert Lifecoins abgezogen. Ich wünsche dir einen erbaulichen Tag.‘
‚Du kannst mich auch mal.‘ Dachte sie, denn hätte sie es gesagt…
Stattdessen fragte sie: „Habe ich Zeit um Joggen zu gehen?“ Sie wollte den Kopf frei bekommen und brauchte tatsächlich die Coins. ‚Laut deinem Gesellschaftsvertrag hast du dich verpflichtet in diesem Jahr noch einhundertsiebenundreißig Stunden…‘ Ja, der Gesellschaftsvertrag. Er wurde jede Jahreswende um Mitternacht neu geschlossen. Ihre Mutter hatte ihr von einem Brauch erzählt, den ihre Großeltern immer zu Silvester vollzogen hatten. Sie setzten sich gute Vorsätze fürs nächste Jahr, um ihr Leben zu verbessern. Laut ihrer Mutter waren diese aber spätestens zwei Tage später wieder vergessen. Dies war jetzt nicht mehr möglich, denn der Vertrag gewährte einem nur bei Einhaltung aller Vorhaben einen Lifecoinbonus. Ansonsten wurden Strafcoins fällig. Auch wenn nur eine Stunde Yoga fehlte und diese nicht anderweitig abgegolten wurde. Christie hatte versucht sich für weniger Sozialarbeit, weniger Produktionsarbeit oder Dienstleistungen und dafür für mehr Vergnügen zu entscheiden. Leider sah ihr Lebensplan so etwas nicht vor. Statt dessen hatte sie eine Entscheidungshilfe in Form einer Liste bekommen. Unter der Rubrik Vergnügen waren politisches Engagement, freie Weiterbildung, künstlerische Arbeit, religiöse Aufklärung, freie Gesundheitsformen und andere Gebiete zu finden, bei denen man das Gefühl bekam, dass sie da nur standen, weil die Zuordnung zu anderen Rubriken unmöglich war. Sie hatte sich für eine Mischung aus freier Weiterbildung, freier Gesundheitsform und den geforderten Stunden der anderen Rubriken entschieden. Tja freie Gesundheitsformen beinhaltete offensichtlich nicht den Genuss von drei Flaschen Wein in zehn Tagen.
„Habe ich JETZT Zeit um Joggen zu gehen?“, wiederholte sie ihre Frage, um Sirian zu unterbrechen. ‚Ich berechne einen Weg von fünfzehn Minuten zu einer Bibliothek bei vier Kilometer pro Stunde. Ja es ist möglich! Soll ich die berechnete Route anzeigen?‘ „Na, klar doch.“, sagte Christie. ‚ich hab doch eh keine andere Wahl‘, dachte sie. Schon war auf ihrem linken Auge eine halbtransparente Landkarte zu erkennen, auf der ihr Standort gelb blinkte und die Bibliothek blau schimmerte. Der Weg selbst war mit einer rötlichen Linie markiert. Na dann mal los. Sie kannte die Bibliothek nicht, aber eigentlich war es auch egal, denn alle Bibliotheken hatten eine einheitliche Ausstattung. Freie Weiterbildung war die einzig gute Entscheidung, die sie hatte treffen können. Auch wenn Sirian ihr zwischenzeitlich zu verstehen gab, welches Wissen besonders unterstützt wurde, so war sie doch frei in der Auswahl ihrer Studiengebiete.
In der Bibliothek angekommen erhielt sie drei Coins gutgeschrieben. Sirian wies sie darauf hin, das die Geschichte des letzten Jahrhunderts momentan besonders gut bewertet wurde. Sie suchte in der Abteilung Historie also das einundzwanzigstes Jahrhundert auf und nahm sich einen der Mikrochips mit der Aufschrift USA. Sie hatte keine Ahnung in welcher Region der Welt sich die USA befunden hatte, aber es war wohl das letzte Imperium gewesen, bevor die Staaten abgeschafft und eine vereinte Welt erschaffen worden war. Das zumindest hatte sie sich aus dem Geschichtsuntericht gemerkt. Ihr Lehrer hatte erzählt, dass die ganze Welt von dieser Nation bedroht und geknechtet wurde. Dazu hatte das Imperium etwas namens Geld benutzt, dass man für geleistete Arbeit bekam und dann für Lebensmittel, Kleidung und anderes ausgeben konnte. Die Menschen damals mussten für alles, selbst für ihre Unterbringung, bezahlen. Nur der Wandel von Papiergeld zu Lifecoins, hatte das Imperium stoppen und diesem Wahnsinn ein Ende bereiten können. Die USA hatten, um ihre Machtposition auszubauen, viele Kriege geführt und Millionen von Menschen vernichtet. Christie wusste, dass ein Imperium immer Menschen in den besetzten Gebieten getötet hatte, das gehörte zum Krieg. Doch dann las sie von einer Zahl, einem Datum eher, und sie machte sich auf die Suche danach. Als sie es gefunden hatte und ansah, konnte sie es kaum glauben, denn seine eigene Bevölkerung zu opfern, das sah einem Imperium nicht ähnlich. Es gab keine genauen Angaben über die Drahtzieher der Aktion, aber sie waren in früheren Jahrhunderten zu suchen. Christie wollte gerade zum zwanzigsten Jahrhundert wechseln, als Sirian ihr sagte, dass sie jetzt zu ihrem Termin joggen musste.
Daystory 5
„Frau Werner, kommen Sie bitte mit.“ Ernst sah Udo Hay sie an und ging voraus.
Was war denn nun schon wieder dachte Daniela frustriert, als sie ihrem Chef in sein Büro folgte. Sie arbeitete nicht gerne in dieser Abteilung, aber versuchte ihre Arbeit so korrekt und schnell wie möglich zu erledigen.

Daystory 5
„Wir haben hier einfach nicht genug für Sie zu tun.“ Mit diesem Satz war Daniela vor ein paar Monaten in eine andere Abteilung versetzt worden. Gefrustet war sie zu ihrem neuen Arbeitsplatz gegangen. Ja natürlich war sie durch ihre Computerkenntnisse bestens für diese Position geeignet, aber genau das hatte sie nicht mehr machen wollen. Entschlossen, dennoch ihr Bestes zu geben, hatte sie die Bürotür geöffnet und war nett empfangen worden.
„Frau Werner? Ich bin Udo Hay. Ich freue mich, dass Sie da sind. Wir können jede Unterstützung gebrauchen.“ Freundlich lächelnd hatte er ihr die Hand entgegen gestreckt, sie zu ihrem neuen Schreibtisch geführt und war gegangen. Mit einem hohen Stapel Aktenordner, den er auf ihren Schreibtisch ablegte, war er zurück gekehrt.
„Diese Änderungsmitteilungen müssen schnellstmöglich raus.“, hatte er gesagt, bevor er ihr gezeigt hatte, wo sie die Vorlage aufrufen konnte. Diese musste sie nun manuell ausfüllen und abändern und per Mail an die einzelnen Kunden raus schicken. An jeden einzelnen. Den ganzen Tag lang. Jeden Tag. Ein Blick in den ersten Ordner hatte ihr gezeigt, dass die Blätter voller Namenslisten waren. Drei Spalten auf jeder Seite. Jedes Blatt beidseitig bedruckt.
Ohne zu murren hatte Daniela sich daran gemacht, die Arbeit eines Computerprogramms auszuführen. Die Firma war wohl zu geizig, um einen Programmierer zu bezahlen. Die Konzentration auf die wechselnden Daten war anstrengend und schon bald hatten die Zahlen vor ihrem inneren Auge angefangen hin und her zu tanzen. Sie hatte gerade eine Seite geschafft und der halbe Arbeitstag war vorüber.
„Ich will Sie nicht drängen, Frau Werner, aber Sie müssen bitte etwas schneller arbeiten. Die Änderungen in diesem Ordner müssen bis Ende der Woche raus.“ , hatte ihr Chef sie auch direkt, nachdem sie aus der Mittagspause kam, zurechtgewiesen.
So lief es seit dem jeden Tag. Egal wie schnell sie arbeitete, es war ihm nicht schnell genug. Und immer kamen neue Listen mit Änderungen hinzu.
„Bitte setzten Sie sich.“ Er rückte ihr einen Stuhl so zurecht, dass sie wie ein kleines Schulmädchen vor seinem Schreibtisch sitzen musste. „Die IT- Abteilung hat das Programm geprüft und wir haben uns entschlossen es einzusetzen.“ Erleichterung machte sich in Daniela breit. Vor mehr als zwei Wochen hatte sie das Programm Herrn Hay übergeben und gebeten, es einsetzen zu dürfen. Seit dem hatte er es nicht mehr erwähnt und sie statt dessen zu noch schnellerem Arbeiten angetrieben. Er sah ihre Erleichterung und fuhr genüsslich fort. „Nun ja, das Programm hat noch einige Mängel, aber die können wir sicher beheben. Es arbeitet allemal schneller und macht weniger Fehler dabei, als Sie, wenn ich das mal so sagen darf. Wenigstens dabei haben sie eine einigermaßen ausreichende Leistung abgeliefert.“ Daniela traute ihren Ohren kaum. War dieser Mensch denn von allen guten Geistern verlassen? Sie hatte Wochen an diesem Programm gearbeitet und unzählige Stunden ihrer Freizeit waren dafür drauf gegangen. Wenn sie dadurch nur wieder etwas anderes machen durfte, war es das allemal wert, hatte sie gedacht. Und nun saß dieser eingebildete Despot da und tat so, als wäre es ein Klacks ein solches Programm zu schreiben. Sie wollte gerade zu einer Antwort ansetzen, als er die Hand hob und ihr damit bedeutete, dass er noch nicht fertig war.
„Ihre Fehlerquote und ihre fehlende Motivation sind zudem zu einem Problem für die Firma geworden. Wir haben schon lange überlegt, ob es für Sie und uns nicht besser ist, wenn sie sich ein anderes Betätigungsfeld suchen. Nun, da wir einen adäquaten Ersatz für ihre Aufgabe haben, halten wir es für Zeit, dass Sie uns verlassen.“ Sprachlos starrte sie ihn an.
„Wie bitte? Dann nehme ich das Programm aber mit. Ich habe es schließlich geschrieben.“, fauchte sie, als sie ihre Sprache wiedergefunden hatte. Hay lächelte spöttisch.
„Sie haben es der Firma überlassen und wenn sie nun glauben, dass Sie dafür eine Sonderbehandlung bekommen… Hören Sie, Sie haben ein Programm geschrieben, dass Sie ersetzt. Das war dumm. Nehmen Sie diese Erfahrung mit und lernen Sie daraus.“ Langsam glaubte sie sich in einem Alptraum zu befinden und schüttelte energisch den Kopf um aufzuwachen. Als nichts geschah stotterte sie. „Was ist denn dann mit der Bezahlung für das Programm? Schließlich will man es ja einsetzen und dadurch Kosten reduzieren.“ Wieder ein spöttisches Grinsen von Hay.
„Frau Werner, wir gehen davon aus, dass ihre fehlende Leistung bei der Arbeit auf das Erstellen dieses Programms zurückzuführen ist. Das bedeutet, dass Sie ihre Arbeitszeit damit verbracht haben es zu schreiben und somit bereits von uns dafür bezahlt worden sind. Bitte, machen Sie nun keine große Szene mehr und räumen ihren Schreibtisch. Bis zur Beendigung des Vertragsverhältnisses sind Sie beurlaubt. Ich wünsche Ihnen eine erfolgreichere Zukunft.“ Damit war das Gespräch für ihn beendet und Daniela stand auf. Ihre Knie zitterten, als sie zur Tür stakste.
Langsam ging sie zu ihrem Schreibtisch im Großraumbüro und kramte ihre Sachen zusammen.
„Machst du schon Feierabend?“, fragte Katja, ihre Kollegin mit dem Schreibtisch nebenan, neugierig. Daniela schüttelte den Kopf und erzählte von der Kündigung. Mitleidig nickten auch ihre anderen Kolleginnen. Alle hatten die täglichen Seitenhiebe von Hay mitbekommen und versucht sie zu trösten. Leider wollte sich keine offen gegen ihn stellen. Jede brauchte ihren Job.
Während sie weiter ihren Tisch ausräumte kam Sandro aus der IT-Abteilung herein. „Habt ihr schon gehört? Der Hay hat ein Programm für die Änderungsmitteilungen geschrieben. Ihr müsst nur noch die entsprechenden Dateien aufrufen und einmal die Änderung eintragen. Den Rest macht das Ding alleine.“ Alle Augen wurden groß und Sandro fuhr aufgeregt fort. „Ja, der Hay, wer hätte gedacht, dass der so ein Nerd ist. Soll einen fünfstelligen Bonus dafür einkassiert haben.“
Daystory 6
„Papa, ich geh ein wenig Fußball spielen.“, sagte sein Sohn und war schon auf dem Weg zur Tür.
Oliver schluckte. Wie sollte er seinem kleinen Jungen erklären, dass die Straßenbenutzung, die Spielplätze und Parkbesuche nun eingeteilt werden mussten? Er hatte sich schon damit abfinden müssen, dass das Internet nur noch für E-Mails benutzt werden konnte, da alle anderen Seiten extra Geld verschlangen, welches momentan nicht zur Verfügung stand.
„Charles, bitte geh‘ nur rüber auf den Bolzplatz und bleib auch nur eine Stunde, ja?“

Daystory 6
„Boah, Papa, der Platz ist total versifft und hat nicht mal das Ranking verdient, das er jetzt hat.“, nörgelte sein Sohn. Damit hatte er nicht unrecht, aber seine angespannte finanzielle Situation ließ keine anderen Möglichkeiten zu. „Bitte, mach was ich sage!“ Charles nickte und ging.
„Was ist los?“, fragte seine Frau und hustete in ihr Taschentuch. Nun, da der Junge aus dem Haus war, konnte Oliver offen reden. Aber war es wirklich eine gute Idee, ihr , in ihrem angeschlagenen Zustand, von den Problemen zu erzählen? Seit sie erkrankt war und das Schiedsgericht beschlossen hatte, dass es keinen eindeutig Schuldigen gab, hatten sich alle Ereignisse auf ihre Gesundheit nieder geschlagen. Vielleicht lag es auch daran, dass sie immer noch jeden Tag die Zigaretten in den Läden, auf den Straßen und auf den Bahnhöfen mitrauchen musste.
„August kommt gleich.“, sagte er daher betont neutral, doch natürlich erkannte auch sie, die sich nahenden Probleme.
„Können wir die Zinsen bezahlen?“ Oliver schüttelte den Kopf. Müde sah sie ihn an. Anscheinend war sie zu erschöpft, um eine neuerliche Diskussion anzufangen. Fasst schon sehnte er sich danach, dass sie sagte: ‚Wie soll eine Welt voll Zäunen uns frei machen?‘ Wie lange war das jetzt her? Zwanzig Jahre? Ja, kurz bevor Charles auf die Welt kam. Damals hatte sie behauptet, dass dieses Eigentumsrecht für Alle, nur bedeuten würde, dass die Reichen, die schon da fast alles besaßen, die Herrscher über die Welt sein würden. Er jedoch dachte, dass sie sich einfach gegen eine Umwandlung des Systems sträuben würde. Inzwischen war er nicht mehr so sicher.
„Wie ist es mit den Lieferanten gelaufen?“, hakte sie nach. Er hatte versucht, die Preiserhöhungen des Gerbers vor ihr geheim zu halten. Aber natürlich hatte sie mitbekommen, dass die Qualität des Leders und somit auch sein Ranking abgenommen hatten. Er hatte dann die höheren Preise des Gerbers akzeptiert und seine eigenen Preise hoch gesetzt. Sie hatte auch mitbekommen, dass diese höheren Preise, sein Ranking weiter in den Keller gedrückt hatten. Die Konsequenzen für sie alle waren ja unübersehbar gewesen. Charles konnte sich seinen Schulweg nicht mehr aussuchen, geschweige denn mit dem Bus, oder gar einer Bahn zu fahren. Die Wege und auch die Läden, um einkaufen zu können, hatte er drastisch reduzieren müssen. Zuletzt hatte Oliver die Benutzung des Internets, des Radios und aller in der Nähe liegenden Cafés sperren müssen. Dennoch schwieg er weiter.
„Oliver, wenn ich mir immer Gedanken mache, werde ich auch nicht gesünder.“, sagte sie schließlich. „ Ja, ich bin krank, weil in diesem System jeder nur an seinen eigenen Profit denkt. Und, ja, dieses Profitdenken lässt mich weiter krank bleiben, aber wenn wir uns nicht mehr vertrauen, zwei Menschen, die keinen Profit ineinander sehen, dann lohnt es sich doch nicht mehr gesund zu werden.“ Erschrocken sah Oliver seine Frau an.
„Schatz, ich liebe dich, aber mit den erhöhten Versicherungskosten und ohne die Möglichkeit irgendwo Geld zu verdienen, bin ich doch nur eine Last für euch.“ Die Worte hallten in Olivers Ohren. Sie waren das, was er auch manchmal nachts, wenn er nicht schlafen konnte gedacht hatte. Sie es aussprechen zu hören war jedoch unerträglich. Unerträglich für ihn selbst und für Charles. Also erzählte er ihr davon, wie die minderwertigen Leder sich auf das Ranking ausgewirkt hatten. Er erzählte davon, dass er immer weniger Bestellungen bekam und die Transportkosten nicht mehr tragen konnte, was wiederum sein Ranking sinken ließ. Er erzählte, dass die gesamten Ersparnisse inzwischen aufgebraucht waren und sie nur noch von heute auf morgen lebten.
„Können wir keinen Kredit bei Menger bekommen?“, fragte sie hoffnungsvoll. Der Gerber war wohlhabend und dafür bekannt, seine überschüssigen Einkünfte zu verleihen. Oliver schüttelte den Kopf.
„Es tut mir leid, Schatz, aber ich habe schon Schulden bei ihm, was unserem Ranking nicht gerade geholfen hat.“ Sie schüttelte resigniert den Kopf und fragte: „Was denkst du wird August sagen?“
„Ich hoffe, dass er mir einen Aufschub gibt. Er hat es nicht nötig. Ein paar Tausend Zinsen mehr oder weniger tun ihm nicht weh. Er verdient so viel mit seinen eigenen Schuhen, dass er hoffentlich noch etwas warten wird.“ Oliver versuchte mehr sich selbst zu ermutigen, denn dies war seine letzte Hoffnung.
Es klopfte. Oliver öffnete die Tür. Wie erwartet stand August davor. Er ließ ihn eintreten.
Kaum hatten sie sich hingesetzt, eröffnete er. „Es tut mir leid, aber ich habe die Zinsen nicht. Können wir vielleicht eine Regelung finden?“ August hob die Hand.
„Oliver, mein Freund, ich weiß, wie dein Ranking derzeit aussieht. Glaub mir, es fällt mir schwer, das jetzt zu sagen, aber ich möchte mein Geld zurück.“ Die beiden Männer schauten sich reglos an und die Aussage hing zwischen ihnen. „ Bitte, August, ich kann dir deine Zinsen bezahlen, gib mir nur etwas Zeit.“, bettelte Oliver und seine Frau hievte sich hustend ins Nebenzimmer.
„Es tut mir leid, aber ich könnte dieses Geld für andere Investitionen nutzen und wenn du mir den abgemachten Ausfall dafür nicht bezahlen kannst, dann möchte ich es zurück!“ Oliver sah verzweifelt seiner Frau hinterher und dachte an seinen Jungen. „Ich habe das Geld nicht. Was schlägst du also vor?“ August betrachtete Oliver und die Werkstatt einen Moment und schien zu überlegen.
„Nun ja, es ist ein großes Risiko, angesichts deiner momentanen Bewertung, aber ich würde dich in mein Unternehmen aufnehmen. Du kannst alles hier so behalten, bekommst von mir Aufträge und die Materiallieferungen dafür und natürlich einen angemessenen Stundenlohn. Dafür kann ich nach unserem Arrangement über diese Werkstätte verfügen, wie ich es für gut heiße.“
Daystory 7
Lean saß im Wartezimmer und las lustlos die Aufklärungsbroschüre. Sicher sollten die schönen bunten Bilder von glücklichen Menschen zeigen, dass die bevorstehenden Operationen nur kurzzeitig schmerzhaft und anstrengend waren, aber leider konnten sie

Daystory 7 inspiriert von Circle Line Art School
Lean nicht beruhigen. Seit Jahren waren die Vorteile der Prozedur im Unterricht in die Kinder eingetrichtert worden. Unmengen von Krebsrisiken wurden dadurch bekämpft und die Qual mit einem unliebsamen Geschlecht erwachsen werden zu müssen wurde einem auch abgenommen. Gebetsmühlenartig hatte ihr Biologielehrer wiederholt, dass die Eingriffe völlig unproblematisch wären. Dennoch konnte Lean nicht aufhören, darüber nachzudenken, ob das tatsächlich alles nötig war.
Vor einem Jahr etwa hatte es angefangen, dass die anderen Kinder nach und nach reif für die Operationen wurden. Bei vielen von ihnen hätte Lean das nie gedacht, aber die Reife hing ja nicht mit dem geistigen Niveau der Person zusammen. Die Klasse war im ersten Halbjahr um über die Hälfte geschrumpft. Schade eigentlich, dass keiner nach seiner Operation wieder in sein bekanntes Umfeld zurückkehren durfte. Zu gerne hätte Lean mit ihnen geredet, um zu fragen, wie sie sich fühlten. Und die Neugier, wofür sie sich entschieden hatten, wuchs mit jedem Tag.
Lean war auf der Seite mit den Brustoperationen angekommen. Die Erste der drei Pflicht-OPs, denen sich jeder unterziehen musste. Keiner durfte seine eigenen Brüste behalten, auch wenn er ein Mädchen war und eine Frau sein wollte. Die Ärzte hatten es so erklärt : Selbst ein Mädchen hat bei Eintritt der Geschlechtsreife keine ausgewachsenen Brüste, diese würden durch die Hormontherapie jedoch nicht mehr wachsen, wogegen Jungen durch diese Therapie ein Brustwachstum zu verzeichnen hätten. Deshalb müsse man bereits am Anfang eine erste Operation durchführen, um je nach Wunsch des Klienten, Silikon einzufügen, Brustgewebe, oder auch die Brustdrüse zu entfernen. Lean hatte sich noch nicht entschieden, was vorgenommen werden sollte. Gut es war keine lebenslange Entscheidung, schließlich konnte man sich nach einigen Jahren noch einmal umentscheiden, wenn man feststellte, das das gewählte Geschlecht einem doch nicht zusagte. Baba jedoch hatte gesagt, dass dies ein noch viel langwierigerer Prozess wäre, da erst eine Hormontherapie beendet werden müsse. Dann die Operation zur Änderung der äußerlichen Erscheinung und dann die Einstellung des neuen Hormongemischs. Sie hatte Lean dringend angeraten sich in der Wahl des Geschlechts sicher zu sein.
Baba hatte auch geraten, vor den Operationen der Genitalien mindestens einmal Sex gehabt zu haben. Bei Lean war es bisher bei Oralverkehr geblieben. Trotz der ständigen Aufforderungen der Lehrer und des fast täglichen Sexualunterrichts, hatten die Kinder kein echtes Interesse daran entwickelt. Lean schätzte, dass dreiviertel der Klasse ohne Erfahrungen in die Reife kamen. Das andere Viertel waren die Schüler der Hegemonen und deren Freunde. Leider gehörte Lean nicht zu den glücklichen Kindern, die bereits mit drei oder vier ausgesucht worden waren, um von den Hegemonen in sexuellen Praktiken unterrichtet zu werden. Baba hatte gemeint, dass nur die niedlichsten ausgesucht wurden und das es keine Schande sei, nicht dabei zu sein. Dennoch war Lean damals sehr traurig gewesen, vor allem, weil die ausgewählten Kinder von da an immer besonders viele Süßigkeiten bekamen.
Die nächste Seite zeigte, wie und wo die Eizellen und Spermien gelagert wurden. Sollte man sich entscheiden ein Kind haben zu wollen, stellte man einen Antrag auf Befruchtung eines passenden Eis beziehungsweise auf die Befruchtung mit passendem Sperma und konnte 42 Wochen später ein Baby abholen. So hatte Baba es Lean erklärt. Sollte man allerdings einen Partner haben, der mit seiner Einlagerung das Gegenstück für eine Befruchtung lieferte, musste man Glück haben, dass das Erbgut nicht bereits für zwei andere Kinder benutzt worden war. Aber wenn nicht, dann konnte das Paar ein Kind gemeinsam haben. Baba hatte viele Beziehungen gehabt, aber keine davon lang genug, um sich auf ein Kind zu einigen. Darum war Lean mit nur einem Elternteil aufgewachsen. Wer der andere Elternteil war, wussten nur die Laboranten der Befruchtungsklinik, in deren künstlicher Gebärmutter Lean herangezogen worden war.
Die Bilder der Entfernung der Geschlechtsorgane hatte man weggelassen, denn man wollte das kindliche Gemüt nicht durch blutige Bilder beunruhigen. So stand es vor der Erklärung zu den einzelnen Schritten. Schließlich ginge es um die positiven Ergebnisse. Baba hatte es so erklärt: Als alle noch von ihrem Geschlecht, dem entsprechenden Fortpflanzungstrieb und den dafür notwendigen Hormonen getrieben wurden, haben die Menschen viele Kriege geführt. Es gab Krieg wegen Macht und Besitz, den Männer haben wollten, um Frauen zu gefallen. Es gab Krieg um die Frage der Gleichberechtigung der Frau gegenüber dem Mann. Damals war die Frau anscheinend verpflichtet gewesen dem Mann zu dienen. Und es gab Krieg, weil es immer mehr Menschen gab, die mit ihrem Geschlecht unglücklich waren. Diese waren von vielen Seiten angegriffen worden und hatten schließlich den Sieg davon getragen. So dass wir heute in einer friedlichen und freien Gesellschaft leben können, in der alle gleich sind.
Lean war bei der Seite mit der Rekonstruktion der Harnröhren und Anlegung des neuen Harnausgangs angekommen. Das war der wichtigste Schritt, denn danach war vom ursprünglichen Geschlecht nichts mehr zu erkennen und auch kein Unterschied mehr zu irgendeinem anderen Menschen auszumachen. Die einzigen, die ihre Geschlechtsorgane, innen wie außen, behalten mussten waren die Hegemonen. Einerseits, um als Sexuallehrer zu fungieren, aber andererseits auch, um an die negativen Folgen zu erinnern, wenn man das Geschlecht behielt. Lean erinnerte sich, dass eine Frau fast bei der Geburt ihres Kindes gestorben war. Es war wochenlang Hauptthema der Nachrichten. Seit drei Jahren berichteten die Nachrichten fast täglich vom Kampf eines Mannes gegen Hodenkrebs und bei einer anderen Frau war gerade Brustkrebs diagnostiziert worden. Obwohl Lean fand, dass die Brüste sowieso hässlich waren. Sie hingen runter und waren irgendwie unförmig. Die von Baba dagegen waren rund und fest und hingen selbst ohne BH nicht einen Milimeter zu tief.
„Lean? Du kannst jetzt zum Arzt rein.“ Die Arzthelferin war neben ihn getreten und ihr blieb seine Erregung nicht verborgen. Lächelnd meinte sie: „Das ist mir früher auch passiert, aber bald hast du es hinter dir.“
Daystory 8

Daystory 8
Geba schaute aus ihrem Fenster. Gleich würde er kommen, ihr heutiges Date. Doch natürlich konnte sie ihn nicht auf dem Weg entdecken, denn Männer liefen nicht, oder nahmen den Bus. Sie kamen über die Autobahnen und parkten ihre Wagen in unterirdischen Parkanlagen. Sie war einmal, als sie noch bei ihrer Mutter gelebt hatte, eingeteilt worden, um dort sauber zu machen. Natürlich hatte sie kein Auto gesehen, denn es war Tag gewesen und Männer kamen nur Nachts. Tagsüber waren sie viel zu beschäftigt damit für den Fortbestand der Gesellschaft zu sorgen. Immerhin mussten sie um all die benötigten Arbeitsplätze, Schulen, Krankenhäuser, Wohnungen und was sonst noch benötigt wurde kümmern. Das alles musste geplant, gebaut und produziert werden. Sie hatten wirklich viel damit zu tun, aber es war ihre Aufgabe. Die Frauen dagegen hatten die Aufgabe ihre Arbeit zu erfüllen und Kinder zu bekommen. Mussten sich aber glücklicherweise nicht mit den anstrengenden Aufgaben der Männer befassen. Denn statistisch gesehen war ein Mann für das Wohlergehen von neun Frauen verantwortlich. Selbst wenn sie acht Kinder bekommen würde, gäbe es einen Mann der dafür sorgte, dass es ihnen allen gut ging.
Es klopfte. Geba zupfte ihr Negligé zurecht, öffnete die Tür und ließ den schlanken Mann eintreten. Geba war überrascht, denn normalerweise bekam sie alte Männer mit dicken Bäuchen und wenig Hals zugeteilt. Diesen hier schätzte sie auf Anfang dreißig und er wirkte weniger zielstrebig als die anderen. Etwas verloren schaute er sich um.
„Ich bin Geba. Gib mir deine Jacke.“, sagte sie daher pflichtbewusst. Er musste müde sein. Sicher hatte er einen anstrengenden Tag gehabt. Er reichte ihr seine Jacke und schob ihr die Schuhe rüber.
„Wie alt bist du?“, fragte er, während sie seine Sachen neben der Tür verstaute.
„Fünfzehn.“, antwortete sie unsicher. Manche Männer wollten lieber eine jüngere Frau haben. Als sie gerade in ihre neue Wohnung eingezogen war, hatte ihr erstes Date sich unbändig gefreut, der erste zu sein. Auch die Männer danach hatten leuchtende Augen bekommen, wenn sie hörten, dass sie zwölf war. Manche hatten sogar das Gleitgel benutzt, dass sie immer auf den Nachtisch stellte. Ihre Mutter hatte ihr diesen Tipp gegeben, bevor sie ausgezogen war.
„Noch keine Töchter?“ Er schaute sich in dem Zimmer noch einmal um, offensichtlich auf der Suche nach Spielzeug oder Kleidung eines Babys. Geba wurde mulmig zumute. War dies ein normales Date? Männer sollten nicht nach Kindern fragen. Im Gegenteil, die Mädchen wurden extra über nacht in der Betreuung behalten, damit die Männer nicht von ihnen gestört wurden. Schließlich mussten sie sich darauf konzentrieren, die Frauen zu befruchten. War er vielleicht geschickt worden, um zu überprüfen, ob sie ihre Pflichten ernst nahm? Sie schüttelte den Kopf und legte sich aufs Bett. Dann klopfte sie neben sich auf die Matratze und meinte lächelnd: „Komm her, dann können wir das ändern.“ Langsam ließ er sich auf das Bett sinken, blieb jedoch sitzen.
„Kann ich erst mal mit dir reden?“, fragte er zögerlich. Es kam nur selten vor, dass Männer reden wollten, oder überhaupt fragten, was sie wollte. Aber er war der Mann und wenn er reden wollte, dann würde sie reden. Geba wusste jedoch nicht, was sie ihm sagen sollte. Also nickte sie nur.
„Du hast doch eine Mutter.“, begann er. „Kannst du mir sagen, wie es ist, eine Mutter zu haben?“
Ungläubig starrte sie ihn an. Als er jedoch nicht weitersprach, gab sie seiner Bitte nach.
„Es ist schön, wenn Mama Zeit hatte, dann hat sie immer mit uns gekuschelt und gespielt. Am schönsten war eigentlich immer, wenn ein neues Schwesterchen da war, weil Mama dann nicht arbeiten durfte und ganz viel Zeit für uns hatte.“ Geba biss sich auf die Zunge und setzte schnell nach: „Natürlich ist es schlimm, dass eine Frau für ein ganzes Jahr nicht ihren Pflichten nachkommen kann.“ Doch der Mann schüttelte den Kopf. „Es ist ihre Pflicht, das erste Jahr mit dem Baby zu verbringen.“ Geba nickte erleichtert. „Hat sie euch auch vorgelesen?“, fragte er dann.
Sie schüttelte den Kopf. „Mama hat es versucht, aber die Schule war schon so lange her und in den Bibliotheken gibt es nur Bücher mit Bildgeschichten und wenigen Worten. Aber wir haben uns oft zusammen eigene Geschichten ausgedacht und dann Bilder dazu gemalt.“ Stolz sah Geba ihn an und ein Lächeln stahl sich in sein Gesicht. „Das hört sich toll an.“, sagte er dann und die Müdigkeit kehrte in seine Augen zurück. Plötzlich fiel ihr ihre Aufgabe wieder ein und sie bot an ihn zu massieren. „Meine Mama hat mir gezeigt, wie ich Schläfen Schultern und Nacken massieren muss, damit du dich entspannen kannst.“ Er nickte und sie machte sich glücklich an die Arbeit. Eine Weile saßen sie so schweigend. Er mit gesenktem Kopf und gekrümmtem Rücken und sie aufrecht hinter ihm. Mit ihren kleinen Händen seine breiten Schultern knetend.
„Weißt du, was mit Jungen passiert?“, fragte er, ohne den Kopf zu heben. Sie legte den Kopf schief und dachte einen Moment nach. „Sie kommen nach der Geburt zu ihren Vätern, die sich darum kümmern, dass sie ihren zukünftigen Aufgaben gewachsen sind. Schließlich können sie ja nicht bei uns bleiben. Wir haben ja gar keine Ahnung, was sie später alles leisten müssen. Ich meine, wer von uns Frauen, sollte einem Jungen etwas beibringen können?“, plapperte sie nach, was sie in den fünf Jahren Schulzeit eingetrichtert bekommen hatte. Ein Grunzen entwich seinen Lippen und sie glaubte, ihm weh getan zu haben. „Es tut mir leid, ich wollte nicht zu fest machen.“
„Nein, mach ruhig so weiter.“ Ein weiteres Schweigen folgte, in dem er mit sich zu ringen schien. Schließlich begann er wieder zu sprechen.
„Es ist nicht ganz so, wie man dir beigebracht hat. Ja, wir werden von Männern auf unsere zukünftigen Aufgaben vorbereitet, aber es sind nicht unsere Väter. Kein Mann weiß, wer sein Vater ist, oder seine Mutter. Wir wachsen in sogenannten Internaten auf, in denen uns beigebracht wird, dass nur der Beste, Schnellste, Klügste für die Gesellschaft relevant ist. Liegt man nicht in irgendeinem Bereich ganz vorne, wird man entsorgt.“
Daystory 9
„Komm schon Schatz.“, drängte Kevin seine Frau. „Du weißt doch ab zweiundzwanzig Uhr ist Partytime.“ Aufgeregt nickte sie und beeilte sich ihm auf ihren Stöckelschuhen zu folgen. Noch vor zwei Wochen hatten sie sich darüber unterhalten, ob sie überhaupt daran teilnehmen sollten. Nancy hatte gemeint, dass es in ihrer momentanen Situation vielleicht ganz gut wäre ihre sozialen Kontakte auf diese Art zu pflegen. Aber er hatte gemeint, dass es angesichts ihrer finanziellen Probleme besser wäre die Füße still zu halten und sich auf ihre Einkommen zu konzentrieren.
„Wir sind gleich da.“ Kevin kontrollierte den Zettel mit der Anschrift. Das Haus, das dazu gehörte, sah eher wie eine von einem Orkan herumgeschleuderte Blechbüchse aus. Natürlich sahen alle Häuser in der Partytime ähnlich aus, aber gelegentlich waren auch weniger beanspruchte Lokalitäten gezeigt worden. Diese jedoch war wirklich eine der am heruntergekommensten. Entsprechend entgeistert starrte auch seine Frau das Gebilde an. „Das ist nicht dein Ernst.“

Daystory 9
„Leider doch.“, nickte er. Sie gingen links am Haus vorbei über den Weg zur Haustür. „Schatz, wir haben noch Zeit, um alles vorzubereiten, bevor sie kommen.“ Sie schien nur wenig beruhigt, was er durchaus verstand, denn auch er versuchte seine Aufregung so gut wie möglich unter Kontrolle zu halten. Er hatte sie überreden können vorerst nicht an der Partytime teilzunehmen, aber dennoch waren sie jetzt sozusagen die Gastgeber.
Vorsichtig öffnete er die Tür und späte in den halbdunklen Raum. Es war nichts zu hören. Anscheinend waren sie allein. Er suchte den Lichtschalter und als sich der Raum erhellte, sah er ein zerschlissenes Sofa, mit einem Tisch davor und an der hinteren Wand eine Matratze. Neben der war wohl der Hinterausgang. Links waren zwei Türen, von denen er vermutete, dass sie zu Küche und Bad führten, denn einen zweiten Stock gab es nicht. Nancy war neben ihn getreten und atmete tief ein, als sie die Situation verarbeitete. Sie hatten sich oft überlegt, wie es den Gastgebern der Partytime gelang diese ausschweifende Gesellschaft zu ertragen.
„ Also gut, lass uns loslegen. Wir haben wenig Zeit.“, meinte sie dann entschlossen. Das liebte er an ihr. Wenn es nötig war konnte sie einen Enthusiasmus an den Tag legen, der seine beständige Zukunftsangst einfach hinweg riss. Er packte die Taschen und folgte ihr in die Behausung.
„Heute sind deine Planungsfähigkeiten gefragt.“, sagte sie und streichelte über seine Schulter. „Du musst mir immer sagen wie viel Zeit wir noch haben, okay?“ Kevin nickte und sagte ihr, dass es in fünfundzwanzig Minuten losgehen sollte. Danach erklärte sie ihm was sie vor hatte und ließ ihm einen Moment um das ganze in den Zeitplan einzufügen. „Womit fangen wir an?“, fragte sie dann ungeduldig. „Nun ja, als Erstes sollten wir wohl die Fenster schützen.“, meinte er.
Glücklicherweise fanden sich in der Küche, es war die zweite Tür links, einige Holzplatten. Sie waren nicht im besten Zustand, aber mit dem Hammer und den extra großen Nägeln konnte man die Fenster ziemlich gut abschotten. Das besorgte Kevin, während Nancy sich darum kümmerte, das Sofa gegen die Wand zu schieben. So war viel mehr Platz im Raum. Hinten lehnte sie die Matratze gegen die Wand und schob das kleine Regal ebenfalls auf die rechte Seite. In ihren Taschen war nicht viel, denn sie hatten nur mitnehmen können, was sie tragen konnten. Sie waren ja auch nicht darauf vorbereitet gewesen, was sie hier erwartete. Ja, es gab viele Nachrichten über die Partytime und ihre Exzesse, aber immer nur aus der Sicht der Besucher. Für die Gastgeber interessierte sich eigentlich niemand.
„Schatz?“ Er brummte ein ‚Ja‘ während er den letzten Nagel einschlug. „Glaubst du wirklich, dass die Partytime etwas bewirkt?“ Das war eine schwierige Frage. Er dachte über all die Berichte nach, die er in den letzten Jahren gesehen hatte. „Eigentlich ja. Wenn man nur Besucher ist, dann tobt man sich aus und kann sich danach wieder auf seine Arbeit konzentrieren. Bei all dem Stress, braucht man auch mal Abstand und muss sich Austoben. Es gibt ja keine anderen Möglichkeiten, um mal Dampf abzulassen.“ Sie war offensichtlich nicht einverstanden mit seiner Antwort.
„Aber Schatz als ich dir vorgeschlagen habe, dass wir teilnehmen sollten, hast du gesagt, dass wir andere Probleme haben, als bei so etwas mitzumachen.“ Er verstand genau was sie dachte.
„Ja, Schatz, das denke ich auch immer noch, aber ich kann verstehen, warum so viele Menschen glauben, dadurch ihren Frust und Stress abbauen zu können. Wir hatten beide Berufe, die uns glücklich gemacht haben. Wir hatten keinen Stress.“ Sie schnaufte schon, um nach einem Widerspruch auszuholen. „Nicht solchen Stress, dass wir das Gefühl hatten wir müssten ihn abkämpfen, meine ich.“ Das beruhigte sie wieder. „Wir haben noch zwei Minuten.“, sagte er nach einem Blick auf die Uhr.
Sie kuschelten sich nebeneinander auf den Boden gegenüber der Matratze. „Weißt du, ich habe eigentlich nie verstanden, warum die Gastgeber die Schuld für unsere Probleme haben sollen.“, sagte Nancy und Kevin musste zugeben, dass er keine Antwort wusste. Jetzt wo sie selbst Gastgeber waren.
„Vielleicht ist die Partytime ja heute gar nicht in dieser Straße.“, sagte sie hoffnungsvoll. Doch bevor er antworten konnte ertönten die ersten Schüsse von der Straße. Also zog er sie enger an sich und sagte: „Wir schaffen das!“
Daystory 10

Daystory 10
Fabian schaute auf den See und genoss die Ruhe. Die meisten waren schon in ihre Winterquartiere umgezogen, doch er liebte das Leben in der Natur. Und eigentlich gab es nichts daran auszusetzen, den Winter in einem Campingwagen zu verbringen. Die Solarpaneele, die mittlerweile eigentlich aus allem Strom machen konnten, reichten völlig aus, um den Wagen zu beheizen, das Essen zu kochen und Internet zu gewährleisten. Lediglich eine warme Dusche ab und zu fehlte ihm.
Er hörte es hinter sich rascheln und augenblicklich wurde er von Angst überwältigt. Es dauerte nur eine Sekunde, bis er sich wieder fasste. Sein Verstand teilte ihm mit, dass diese Angst nur durch eine Erinnerung ausgelöst worden war und keine wirkliche Gefahr bestand. Er blickte sich um und sah einen kleinen Jungen, der ihn unsicher anstarrte. „Hallo.“, sagte er schlicht.
Einen Moment schien der Junge mit sich zu ringen. „Meine Eltern sagen, dass Sie ein berühmter Geschichtsprofessor sind.“ Fabian lachte traurig auf. Ja, das war er, obwohl der Ruhm eher anderen gebührte. „Sie sagen auch, dass ich Ihnen danken muss.“, schob der Junge trotzig nach.
„Wirklich? Weißt du denn auch wofür?“ Der Junge schüttelte den Kopf. „Dann musst du mir nicht danken.“ Fabian schaute wieder auf den See, aber er spürte jetzt den bohrenden Blick des Kindes auf sich ruhen. „Möchtest du es denn wissen?“, fragte er daher. Überraschend schnell war der Junge neben ihm und setzte sich.
„ Papa meint, dass wir in Freiheit leben können. Mama sagt, dass sie dafür gesorgt haben, dass wir kein Geld mehr brauchen.“ Mit großen Augen schaute er ihn an.
„In gewisser Weise stimmt das, aber natürlich war ich das nicht allein. Ich war nur ein winzig kleiner Teil einer riesigen Bewegung, die sich ein paar bösen Menschen entgegengestellt hat.“ Und einer der wenigen, die es überlebt hatten.
„Was waren das für böse Menschen?“, fragte der Junge nach. Fabian glaubte ihn schon einmal mit seinen Eltern gesehen zu haben. Sie waren sehr jung. Er glaubte nicht, dass sie bei der großen Revolution schon auf der Welt waren. Das Ende war immerhin schon fünfunddreißig Jahre her.
„Nun, sie wollten die gesamte Erde beherrschen. Alle Menschen sollten ihnen dienen und für ihr Wohl sorgen.“ Und damit das auch alle artig mitmachten hatten sie Kriege und Terror angefacht und Millionen von Menschen getötet, verstümmelt und misshandelt. Natürlich hätten das die anderen Menschen nicht mitgemacht, wenn man ihnen das Denken nicht abgewöhnt hätte und durch Neid und Hassgefühle ersetzt hätte.
„Das verstehe ich nicht, hatten die keine Familie?“ Fragend schaute Fabian den Kleinen an. „Mama sagt immer, wenn du einen Diener suchst, dann geh zu Opa.“ Das war ein böser Witz, dennoch musste Fabian schmunzeln. Ja viel zu viele waren in blindem Gehorsam den Vorgaben dieser Leute gefolgt und hatten nie hinterfragt, für wen sie all die Arbeit leisteten. Jeder dachte, er müsse nur härter arbeiten und dann würde es ihm besser gehen. Erst nach dem Untergang diese Diktatur hatten sie verstanden, dass keiner je für sich selbst gearbeitet hatte. Doch auch jetzt gab es noch immer Leute, die glaubten, dass das System nur wegen Leuten wie ihm gescheitert war. Er schüttelte den Kopf.
„Stell dir vor in der Schule ist ein andere Junge, der immer von dir verlangt seine Hausaufgaben zu machen und seinen Ranzen zu tragen und ihm dein Frühstücksbrot zu geben.“ Der Junge grinste.
„Dem zeig ich den Mittelfinger.“
„Ja, das wäre normal. Aber wenn du glaubst, dass er stärker ist und du allein gegen ihn stehen müsstest, würdest du vielleicht lieber machen, was er von dir will.“ Er nickte. „Siehst du das Problem war, dass fast alle diesen Menschen gedient haben und ihre Eltern vor ihnen und so weiter, viele hundert Jahre lang. So lange, dass den meisten Menschen nicht einmal mehr bewusst war, dass sie nur aufhören mussten diese Leute zu bedienen.“
Der Junge dachte eine Weile nach, dann fragte er: „Und was ist dieses Gelddings?“ Hmm wie sollte er erklären, dass die Menschen Jahrhunderte lang daran geglaubt hatten, dass nutzlose Metallscheiben und wertlose Papierzettel das einzige waren, was die Welt vorm Auseinanderbrechen bewahren konnte.
„Nehmen wir an, dass der Junge auf deiner Schule inzwischen alle Frühstücksbrote aus der Klasse bekommt. Er kann sie nicht alle allein essen, also gibt er jedem der etwas für ihn gemacht hat einen Gutschein über ein Frühstücksbrot. Wenn also jemand sein Brot behalten oder ein anderes haben möchte, muss er dem Jungen den Zettel wieder geben.“
Entgeistert starrte der Kleine ihn an. „Soll das heißen ich mache seine Hausaufgaben, damit ich mein Brot essen kann? Und diese Zettel sind Geld?“ Fabian nickte. Der Junge stand auf und umarmte ihn. „Danke.“
Daystory 11

Rad des Lebens
Es klopfte an der Wohnungstür. Marie ging die fünf Schritte aus ihrer Wohnküche zur Tür und öffnete fröhlich ihrer Nachbarin, die unter ihr wohnte. „ Hallo, Katja, willst du reinkommen?„
„Ja.“ , sagte diese und schien etwas unschlüssig. Als Marie die Tür hinter ihr schloss sagte sie: „Marie, ich will echt nicht meckern, aber das mit dem Lärm aus deinem Arbeitszimmer geht echt nicht. Ich meine wir haben da unser Schlafzimmer… Wenn du tagsüber da rumwerkelst ist das ja noch in Ordnung, aber gestern Nacht zum Beispiel, konnte ich kaum ein Auge zumachen.“ Marie nickte und schob Katja einen Kaffeebecher zu. „Ja, tut mir leid, ich hatte da eine Idee… aber eigentlich muss ich mir generell überlegen, wie das mit dem Krach besser wird. Ich muss jetzt zur Schule raus, wir haben eine neue Lehrerin, wenn du zeit hast, dann komm doch mit. Unterwegs können wir darüber reden, was besonders laut und nervig ist.“ Bot sie an, da sie wirklich keine Lust auf Streit hatte und durchaus wusste, wie nervig Dauerlärm der Nachbarn sein konnte. Das war der Grund, warum sie jetzt in dieser Dachgeschosswohnung wohnte. Natürlich waren die vier Zimmer, nur dadurch hatte sie überhaupt ein Arbeitszimmer um ihre Kreativität auszuleben, und die Dachterrasse, auf der sie ein Minigewächshaus errichtet hatte, ebenfalls schlagende Einzugsargumente gewesen. Katja nickte, immer noch etwas unsicher.
„Komm, Sophie, wir müssen los.“, sagte Marie und schnappte sich ihre Tasche, die an der Lehne eines ihrer Tresenstühle hing und öffnete die Wohnungstür. „Wo hast du eigentlich diese Stühle her?“, fragte Katja auf dem Weg zum Fahrstuhl. „Oh, die mache ich selber, daher öfter der Lärm im Arbeitszimmer, immer fällt was um, oder knallt auf den Boden, oder na ja du hörst es ja… Wenn ich nur schreiben würde, wäre es sicher angenehmer für dich, oder hörst du auch, wenn ich meinen Rechner zutexte?“
„Eigentlich nur ab und zu, aber da klingst du irgendwie anders.. was machst du da denn?“ Marie kannte Katja noch nicht lange, aber ihr schien, als würde sie Neugier in der Frage mitschwingen hören.
„Hmm, ich schätze du meinst, wenn ich meine Leseproben aufnehme, aber das mache ich doch immer morgens. Fange ich zu früh an?“ Marie konnte sich glücklicherweise ihre Tage größtenteils selbst einteilen, da sie nicht an einen festen Arbeitsplatz gebunden war und auch keine Arbeitszeiten einhalten musste. Das machte sie natürlich etwas blind gegenüber den Bedürfnissen derer, die genau das mussten.
„Oh, nein, das ist in Ordnung, ich hatte nur keine Ahnung was du da treibst. Ich kann das auch selten überhaupt hören. Ich war letzte Woche krank und da hab ich es mal wieder mitbekommen, als ich so im Bett lag…“, antwortete Katja schnell.
„Du warst krank? Mensch hättest doch ne SMS geschickt, oder kurz angerufen.“ Marie dachte daran, wie eklig sie sich immer fühlte, wenn sie krank war. Man sollte meinen ihre kleine Tochter Sophie wäre das weinerliche Kleinkind, aber nicht wenn Marie erkältet war. Dann war eindeutig sie diejenige, die mit ihrem Gejammer alle in den Wahnsinn trieb. Nicht umsonst kam Jochen, der Vater von Sophie, freiwillig, um die Kleine abzuholen und verschwand schnellstmöglich wieder. Wenn möglich behielt er Sophie sogar über Nacht bei sich und brachte sie erst am nächsten Abend wieder. Vielleicht sollte sie öfter mal krank spielen?
„Du ehrlich, es war nicht so schlimm. Ein wenig den Magen verdorben. War nach zwei Tagen vorbei.“, beschwichtigte ihre Nachbarin, während sie die Straße zur Bushaltestelle entlanggingen.
„Aber um nochmal auf die Stühle zurück zu kommen… Verkaufst du die auch?“, hakte Katja nach.
Marie schüttelte den Kopf. „Na ja also nicht verkaufen in dem Sinne, dass ich reich damit werde. Ich berechne etwa das Material, das ich gebraucht habe und dafür gebe ich sie dann weg. Es ist mehr wie ein Tauschgeschäft. Gefallen sie dir?“ Katjas Augen leuchteten, als sie heftig nickte und Marie lächelte. Da kam der Bus und sie musste Sophie fest an der Hand halten, damit diese nicht schon vor dem Halten versuchte in den Bus einzusteigen.
Als sie im Bus saßen bot sie Katja an: „Ich mache gerade einige neue Stühle, wie du ja mitbekommen hast und kann dir gerne die alten überlassen.“ Die Augen ihrer Nachbarin wurden immer größer. „Ehrlich? Wie viel willst du dafür?“ Die Frage kam förmlich aus ihrem Gehirn geschossen und dass sie dafür Mund und Zunge bewegte, war nur der Gewohnheit geschuldet.
„Hast du einen Haufen Zeitungen, Kleister und eine Tüte Gips? Dann bring das vorbei und wir sind quitt. Schließlich haben wir die Stühle ja auch lang genug benutzt.“ Katja schaute sie ungläubig an und schüttelte dann den Kopf. „ Du nimmst mich auf den Arm, die Stühle sind doch deine eigene Arbeit und du willst sie einfach so hergeben?“
„Ja, aber ich mache ja neue und dir gefallen sie. Außerdem brauche ich Platz und kostengünstiges Material. Eigentlich nutze ich dich total aus.“, grinste Marie. Dann fügte sie ernst hinzu: „Ehrlich, es sind Stühle und auf denen sollte jemand sitzen, also, wozu sie behalten und in den Keller sperren?“
„Was ist das eigentlich für eine Schule?“, fragte Katja plötzlich, als ihr aufgefallen war, dass sie sich auf dem Weg in einen Vorort von Hamburg befanden.
„Sie ist noch recht neu. Ich habe sie gegründet, weil ich keine Lust hatte, Sophie im normalen Schulsystem verkommen zu lassen. Gut, nicht nur wegen Sophie, aber letztendlich war sie der ausschlaggebende Punkt.“, erklärte Marie.
„Ja, da machen die Lehrer, was ich will.“, kam es von ihrer Tochter, die ihren Namen gehört hatte und sofort klarstellen musste, dass man nicht über sie redete, als wäre sie nicht da. Katja schaute Marie verwirrt an.
„Nein, mein Schatz, die Lehrer machen nicht, was du willst, sondern sie bieten dir interessante Möglichkeiten an, dein Potenzial zu erkennen und auszubauen.“, sagte sie zu der Kleinen und drückte ihr einen dicken Kuss auf die Stirn, was zu Folge hatte, dass das Kind sich die Stirn abwischte und demonstrativ aus dem Fenster schaute. So konnte Marie in Ruhe weiter mit ihrer Nachbarin reden. „ Das Konzept ist wirklich so, dass die Lehrer die Kinder für ihren Stoff interessieren müssen. Es gibt keine festen Stundenpläne, oder einheitliche Klassen, sondern die Kinder suchen sich aus, an welchen Unterrichtseinheiten sie teilnehmen wollen. Das ist für viele Lehrer ein unbekanntes Gebiet, da sie nicht damit vertraut sind, dass sie sich selbst um die Unterrichtsteilnahme der Kinder kümmern müssen. Gerade ältere Lehrer haben ein Problem damit, wenn kein Kind zu ihrem Unterricht erscheint. Daher haben wir gerade jetzt viele Referendare und junge Lehrer, die auf eine Beamtenstelle hoffen, oder bei privaten Schulen unterkommen wollen. Wir haben einen festen Stamm, der hinter der Idee steht, aber eben drum herum viel Fluktuation. Deswegen muss ich die neue Lehrerin mit absegnen und einführen, aber dann habe ich wirklich Zeit, damit wir das mit dem Gelärme von mir klären können. Hier müssen wir aussteigen.“
Kaum ausgestiegen rannte Sophie schon los und bog in einen Waldweg ab, so dass die beiden Frauen sich beeilen mussten, um sie im Auge behalten zu können. Als die Schule schließlich in Sichtweite kam stellte Katja erstaunt fest: „Das ist ein Bauernhof.“
„Ja, ich gebe zu, die Idee einen Bauernhof dafür zu nutzen ist nicht neu, aber das Konzept unterscheidet sich etwas von seinen Vorreitern. Na jedenfalls hatte ich dadurch tatkräftige Hilfe bei der Planung und dem ganzen Behördenkram. Sieh dich doch etwas um, während ich mich um den organisatorischen Teil kümmere. Ich beeile mich.“
Als Marie nach der Besprechung mit Direktorin und neuer Lehrerin zurück zu ihrer Nachbarin kam, fand sie sie im Gemüsegarten, wo sie einer Unterrichtsstunde in Biologie folgte. Der Lehrer nickte ihr kurz zu und fuhr dann fort. „Ich wäre dann soweit.“, flüsterte sie Katja zu.
Als sie etwas Entfernung zwischen sich und den Garten gebracht hatten platzte es aus Katja heraus: „Das ist toll. Wenn meine Lehrer so einfallsreich gewesen wären, hätte ich mich für alles interessiert. Ich würde am liebsten hierbleiben und alle Schuljahre nochmal machen.“ Marie nickte: „Ich auch.“ „Aber wie finanziert sich das ganze? Die Schulgebühren müssen doch horrend sein?“ Das war immer die erste Frage und Marie konnte nur voller Stolz erwidern: „Seit meine Bücher gut laufen, fließen alle Einnahmen, die wir nicht zum Leben brauchen in die Schule, beziehungsweise eine Stiftung, die die Schule unterhält. Dadurch ist es uns möglich die Schüler kostenlos zu unterrichten. Die Eltern, die über ausreichend Mittel verfügen, können freiwillig an die Stiftung spenden. Zudem arbeiten wir daran, dass sich die Schule im Bezug auf Essen und Energie autark macht, also Solar und Biogasanlagen und eigenes Gemüse, Wildpflanzen, Eier und Milch ..“
Daystory 12
Als es kein (Bar) Geld mehr gab Teil 2
„Erinnerung an alle Bewohner: Heute Abend ab zwanzig Uhr wird ein allgemeines Update stattfinden. Sie werden gebeten sich, zu ihrer eigenen Sicherheit zu hause aufzuhalten. Ihre Arbeitspläne wurden entsprechend verändert“ Christie gähnte, denn es war früh am Morgen und diese ‚Durchsage lief seit 3 Tagen jeden Morgen in ihrem Kopf ab. Alle paar Monate wurden die Server gewartet und die Updates aufgespielt, was jedes mal einen gesamten Abend versaute. Sie konnte nicht einmal ihre vorgeschriebenen Meditationseinheiten machen, weil sie dann keine Lifecoins dafür gutgeschrieben bekommen würde…

Als es kein (Bar) Geld mehr gab (2)
Sie joggte wieder die kurze Strecke zur Bibliothek, um ihre ‚freien‘ Studien aufzunehmen. Leider hatte sie in den letzten Wochen feststellen müssen, dass diese so frei gar nicht waren, denn immer, wenn sie versuchte hinter das Rätsel der Machenschaften des Imperiums zu kommen, hatte Sirian eine neue Aufgabe für sie und drohte mit Lifecoinabzug, wenn sie sich nicht umgehend dahin begeben würde. Zudem war das 21. Jahrhundert jetzt erst ab den neunziger Jahren wieder freigegeben. Also die Geschichte, die sie täglich in der Schule hatte eingetrichtert bekommen.
Dennoch versuchte sie auch heute wieder einen anderen Weg zu finden. Ihr war eingefallen, dass sie ja nicht nur über die politische Geschichtsschreibung, sondern auch über die Wirtschaft an dieses Themengebiet herankommen konnte. Immerhin war Geld damals das gewesen, was jeder brauchte…
Sirian hatte auch nichts dagegen, dass sie sich mit Kapitalismus und dem sogenannten Finanzmarkt auseinandersetzte. Sie holte sich eine Erklärung der Börsenkurse, die den Zeitraum umfasste, der sie interessierte und connectete den Microchip.
„Wenn du dies liest, hast du die richtigen Fragen gestellt. Deine Chips sind für weitere 30 Sekunden ausgestellt. Wenn du Antworten willst, merke dir den Weg und triff uns beim nächsten Update dort.“ Eine Karte erschien, auf der der Weg von der Bibliothek bis zu dem Treffpunkt eingezeichnet war. Es war keine Zeit um eine Skizze zu machen und Christie hoffte sie würde sich überhaupt erinnern können. Obwohl, sollte sie da hin gehen? Wer weiß, was sie da erwartete, immerhin waren dann alle Chips aus und ihr könnte alles mögliche zustoßen…
„Entschuldige, es gab einen kleinen Disconnect, Ist alles in Ordnung?“ , meldete sich Sirian. Christie nickte geistesabwesend. „Christine, bitte antworte.“
„Ja, es ist alles in Ordnung. Hast du eine Ahnung, warum die Verbindung unterbrochen war?“, fragte sie betont gleichgültig. „Leider nein, es gab vielleicht eine kleine Überbeanspruchung der Antenne. Ein Bericht wurde an die Systemverwaltung geschickt. Möchtest du weiter darüber informiert werden?“
„Ach lass mal, das war ja nur kurz und überhaupt das erste Mal. Ich bin sicher, die Verwaltung wird das regeln.“, meinte sie, dann setzte sie nach : „Habe ich eigentlich meine Zeit hier durch? Ich hätte jetzt Lust auf Yoga.“ Christie war artig zu ihren Beratungsstunden gegangen und hatte nun Pflichteinheiten in Meditation und Yoga, damit sie lernte sich zu entspannen. Zudem erklärte ihr die Beraterin jedes mal, dass positives Denken und das Erkennen des Schönem in ihrem Leben, ihr dabei helfen würden ihr eklatantes Alkoholproblem in den Griff zu bekommen. Sie, Christie, würde sich zu viele Gedanken über schlechte Dinge machen und deshalb so oft das Gefühl haben, dass sie sich betäuben müsste. Das konnte Christie durchaus bestätigen, auch wenn sie nicht ansatzweise der Meinung war, dass dies oft geschehen würde. Irgendwie wurde sie auch das Gefühl nicht los, dass dieses Schöndenken der Welt ihr nicht half, sondern sie einfach ablenken sollte, von dem, was sie eigentlich interessierte. Ja, sie würde zu diesem Treffpunkt gehen!
Christie war die letzten Stunden immer nervöser geworden, die extra Einheit Meditation hatte dies nicht ändern können, aber sie hatte weitere 4 Lifecoins als Bonus gutgeschrieben bekommen. Die letzten 20 Minuten hatte sie, wie auf heißen Kohlen gesessen und gewartet, dass Sirian endlich runter gefahren wurde. Nun rannte sie den Weg zur Bibliothek. Immer wieder versuchte sie sich die Karte ins Gedächtnis zu rufen. War es verrückt? Ja, auf jeden Fall! Ihre Eltern würden sie in eine Klinik einweisen lassen, wenn sie davon wüssten. Aber Christie wollte wissen, wer hinter dieser Nachricht steckte und wie, verdammt noch mal, die das angestellt hatten. Sicherheit für Individuum und Recht, kurz SIR genannt, galt als unhackbar.
Nachdem sie die Bibliothek passiert hatte wurde sie langsamer und konzentrierte sich mehr auf die Karte vor ihrem inneren Auge. Hoffentlich hatte sie sich alles richtig gemerkt…. Hoffentlich erwarteten sie keine mordlüsternen Irren… Ihre Hände begannen zu zittern und in ihrem Magen kribbelte und vibrierte es, als wäre ein Schwarm Bienen darin unterwegs.
Vor der letzten Ecke blieb sie stehen und überlegte noch einmal, ob sie das wirklich tun wollte, als aus der Straße links von ihr ein junger Mann gelaufen kam. Den ganzen Weg hatte sie keinen Menschen gesehen, also musste auch er entweder dazu gehören, oder ebenfalls die richtigen Fragen gestellt haben. Die beiden musterten sich einen Augenblick misstrauisch, dann deutete der Mann fragend in die Richtung, in der auch Christie den Treffpunkt vermutete. Sie nickte und die beiden liefen gemeinsam um die Ecke.
„Hallo ich bin Marc, schön, dass ihr uns gefunden habt.“
Daystory 13
Der Schmerz hatte aufgehört. Willi stand allein in seinem Garten und schaute in die Nacht. Er fühlte sich seltsam leicht, so als wäre alle Last des letzten Jahres von ihm abgefallen. Und der Schmerz hatte aufgehört.
War er nicht eben noch in seinem Bett gewesen? Wie war er hierher gekommen? War das wirklich sein Garten? Er kannte ihn und dennoch hatte er das Gefühl ihn zum ersten Mal zu sehen.
Er erinnerte sich, wie er hier als Kind mit seinem Hund getobt hatte. Deutlich hörte er das Bellen. Da stand früher ein Apfelbaum, auf den er immer geklettert und mehr als einmal runter gefallen war. Laut hörte er sein eigenes Weinen und seine Mutter, die ihn tröstete. Hörte seinen Vater schimpfen und die Sirene des Krankenwagens. Drei Stiche hatte es gebraucht…
Er tastete nach seiner Narbe am Hinterkopf, aber konnte sie nicht mehr fühlen. Wieso stand er im Garten? Und wo war seine Frau? Klar hörte er ihr Lachen. So hatte er sie lange nicht mehr lachen gehört.
Er erinnerte sich, wie er sie das erste Mal mit nach Hause gebracht hatte. Seine Mutter war nicht begeistert gewesen, immerhin war sie eine Österreicherin… Er konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. Am Anfang hatte er tatsächlich nur Interesse an ihr, um seine Eltern auf die Palme zu treiben und niemals hätte er gedacht, dass daraus fast fünfzig Jahre Ehe werden würden. Doch immer mehr hatte sie ihn in seinen Bann gezogen. Ihn begeistert mit ihrer Wissbegierde und ihrer Lebensfreude, so dass er sich nicht vorstellen konnte sein Leben ohne sie zu verbringen.
Er fühlte nach dem Ring an seinem Finger, doch er war nicht mehr da. Was war hier los? Unverkennbar drang der Lieblingssong seiner Frau an sein Ohr. Sie hatten den ersten Tanz bei ihrer Hochzeit dazu getanzt.
Er erinnerte sich, wie er das erste Mal mit seinem Sohn hier im Garten Fußball gespielt hatte und der Kleine zu weinen anfing, weil er den Ball einfach nicht mit seinem Fuß treffen wollte. Wie wenig er doch von seiner Kindheit mitbekommen hatte. Jahre hatte er auf See verbracht, weil dies die einzige Arbeit war, mit der er ermöglichen konnte, die Familie zu ernähren, die Renovierung des Hauses, die Grundstückssteuern und die Hypothek abzubezahlen. Schlechter bezahlt als die Arbeit auf dem Bau, aber dafür ohne Asbest…
Er fühlte nach der Narbe auf seinem Schienbein, doch da war keine mehr. Es war Winter und dennoch fror er nicht. Er hatte gerade mal seinen Schlafanzug an, wieso hatte er sich nicht angezogen?
Er erinnerte sich, wie seine älteste Enkelin den ersten Sommer bei ihnen verbracht hatte und nackt durch den Garten getobt war. Wie seine Jüngste letztes Weihnachten das erste Mal den Garten erkundet hatte. Er überlegte, wo er die Ostereier für die Kinder verstecken würde. Die beiden waren viel zu selten bei ihnen, aber leider ließ es der Zeitplan nicht öfter zu. Alles wurde auf ein paar wenige Feiertage im Jahr zusammengequetscht. Sein Sohn wohnte hundert Kilometer weg, der Karriere zuliebe. Die Mutter der jüngsten Enkelin wohnte sogar noch weitere 300 Kilometer entfernt, weil sie da einen Job gefunden hatte. So wenig Zeit hatte er bisher mit ihnen verbracht, und lange würde ihm vielleicht nicht mehr bleiben…
Er fühlte nach dem Schmerz in seiner Brust. Er konnte nichts fühlen. War sein Lungenkrebs einfach weg? Hatte die Chemotherapie gewirkt? Er fühlte nach den Stoppeln auf seinem Kopf, die langsam wieder zu wachsen begonnen hatten, aber er hatte wieder volles Haar.
Er erinnerte sich an den Tod seines Vaters, der nach langem Kampf dem Krebs doch erlegen war. Er wollte niemals so enden, hatte er gedacht. Er erinnerte sich an seine Wut, die er empfunden hatte, als sein Vater starb, viel zu früh. Die ganze Welt hatte er verflucht und Schuldige gesucht. Er sah die Trauerfeier im Garten vor seinen Augen. Sah die trauernden Gäste und hörte ihre Mitleidsbekundungen. Irgendetwas kam ihm seltsam vor. Da standen seine Frau und sein Sohn, seine beiden Enkelkinder und ihre Mütter…
Er fühlte einen kleinen Stich in seinem Herzen und erkannte, dass er selbst es war, um den sie trauerten.
Daystory 14
Markus lag ausgestreckt auf seiner Pritsche und dachte nach. Er war nervös, denn es waren zwei Wochen vergangen, seit er das letzte Mal zu Begattung geholt worden war. Das war nicht normal. Immerhin war er eines der besten Zuchtexemplare. Gut er war schon ein wenig in die Jahre gekommen, aber er hatte einige gute Kundinnen, die ihn immer wieder verlangten, selbst wenn sie kaum noch in der Lage waren Kinder zu bekommen. Zudem war er mit seinen 38 Jahren noch lange zeugungsfähig, aber die zahlreichen Untersuchungen in den letzten Tagen machten ihn nervös.

Daystory 14
„Markus, aufstehen!“ Die Stimme der Wächterin schreckte ihn auf. „Es gibt eine weitere Untersuchung, du kennst den Weg ja.“, sie schloss sein Gitter auf und deutete mit dem Elektroschocker in die Richtung, in der sich das Untersuchungszimmer befand. Markus schlenderte betont lässig zu der Tür, dabei genoss er den gierigen Blick der Wächterin auf seinen Hintern, und klopfte. Erst als die Ärztin ihn hereinrief, öffnete er die Tür und nahm auf der Patientenliege Platz. Sie sah kaum von ihren Unterlagen auf. „Markus, leider haben wir keine Verwendung mehr für dich. Wie sich herausgestellt hat, sind deine Spermien nicht mehr fruchtbar, beziehungsweise einfach zu wenig und zu langsam.“, erst jetzt schaute sie ihn an. Fassungslos starrte er die Ärztin an, die neutral die bisherigen Ergebnisse erklärte: „Wir haben einige Tests vorgenommen und sehen keine Möglichkeit, dein Genmaterial weiter zu verwenden. Es kommt selten vor, dass ein Zeuger in deinem Alter bereits unfruchtbar wird. Wir sind nicht sicher, ob wir eventuell einen Gendefekt übersehen haben. Wir werden das bei deinen älteren Abkömmlingen beobachten müssen. Es wäre sehr schade, wenn wir sie alle entfernen müssten.“ Sie holte Luft, so dass Markus verwirrt fragen konnte: „Was? Wieso alle?“
„Nun, wenn es sich um einen Defekt handelt, welcher sich ebenfalls auf deine weiblichen Nachkommen auswirkt, können wir deine männlichen Abkömmlinge nicht für die Fortpflanzung gebrauchen. Das Gesetz der Genreinheit verbietet es.“ Markus nickte. „Du weißt auch, was das Gesetz für unfruchtbare Zeuger vorsieht?“, fragte sie nüchtern nach, während sie zur Tür ging und die Wächterin heranwinkte. Markus wusste, was ihn erwartete, wenn er keine Kinder mehr zeugen konnte, aber er hatte nicht gedacht, dass ihn jemals ein solches Schicksal ereilen würde. Schockiert nickte er wieder. Er hatte nicht bemerkt, wie die Wächterin hereingekommen war und schaute sie überrascht an, als sie ihm nun die Hände hinter dem Rücken fesselte. „Eine Vorsichtsmaßnahme.“, beschwichtigte sie ihn mit mitleidigem Blick und bat ihn mitzukommen. „Es wird sehr schnell gehen.“, hörte er die Ärztin noch versichern. „Ein kurzer Schuss, dann ist es schon vorbei! Du wirst es kaum merken.“ Da gingen in seinem Kopf die Alarmglocken los und er versuchte dem Griff der Wächterin zu entkommen. Er trat und stieß sie von sich weg, um durch die geöffnete Tür flüchten zu können. Doch beide Frauen stürzten sich auf ihn. Er versuchte sie weiter durch Tritte und Stöße abzuschütteln, bis ein Blitz ihn durchzuckte und er in sich zusammensackte.
Als Markus wieder zu sich kam, lag er auf einer harten Bahre in einer ansonsten leeren Zelle, die von allen Seiten einsehbar war. So wie ein Käfig, den man mitten in einen Raum gestellt hatte. Es gab drei Zugänge zu dem Raum. Zwei normale rechts und links von seiner Zellentür und eine große Doppeltür auf der gegenüberliegenden Seite. Große Buchstaben erklärten sicherlich wo diese Tür hinführte. Als er jünger war, wollte er immer wissen, warum er nicht lesen lernen durfte, aber in diesem Moment war er froh darüber, denn er war nicht sicher, ob er wissen wollte, was sich hinter der Tür befand. Die rechte Tür ging auf und ein alter Mann kam herein. Er schob einen kleinen Geschirrwagen vor sich her, auf dem ein Teller mit belegten Broten und ein Glas Wasser standen. Hinter ihm her ging eine massige Wärterin, die klickend mit dem Verschluss ihrer Taserhalterung spielte. „Ich hoffe du hast nicht vor wieder einen Fluchtversuch zu starten!“, sagte sie drohend, als sie die Tür aufschloss und den Alten den Wagen hereinschieben ließ. Markus beobachtete fasziniert den gebeugten, klapprigen Mann, der ihm in Zeitlupentempo den Wagen vor die Bahre schob. Er hatte noch nie einen so alten Mann gesehen. Alte Frauen ja natürlich, davon gab es draußen genug. Nicht, dass sie noch Interesse an ihm gehabt hätten, konnten sie sich ja nicht mehr fortpflanzen, aber als Gouvernanten, Erzieherinnen und Großmütter waren sie überall anzutreffen. Alte Männer jedoch, also für den Genpool uninteressante, wurden sofort aussortiert. Und doch war dieser Mann am Leben, also gab es da vielleicht noch eine Möglichkeit für ihn?
Grübelnd lag Markus auf seiner Bahre und dachte eine unmögliche Art der Flucht nach der anderen durch, als die linke Tür aufgestoßen wurde und einige Krankenschwestern eine ganze Reihe von Babys auf Tragen an ihm vorbei schoben. Die Kleinen waren feinsäuberlich, in Zweierreihen, in Drahtkörben, ohne Decken, auf den Tragen verstaut und gesichert worden. Ohne genauer hinzusehen, war Markus sich sicher, dass es sich um männliche Babys handelte. Bestimmt waren sie aussortiert worden und sollte nun entsorgt werden. Was genau das bedeutete, wusste kein Mann. Klar war nur, dass diese Jungen nur noch wenige Tage leben würden. Auf der letzten Trage befanden sich unterschiedlich große Plastiktüten allesamt blutverschmiert aber durch das Blut sah man winzige Körperteile, die eindeutig zu Menschen gehörten. Markus wusste nicht, wie man Kinder nannte die man den Frauen vor der Geburt aus dem Körper holte, weil sich ein Gendefekt schon herausgestellt hatte, aber er wusste, dass diese sich in den Tüten befanden. Während die traurige Prozession sich ihren Weg durch den Raum bahnte, kämpfte Markus gegen den aufsteigenden Ekel in ihm an. Die erste Krankenschwester war bei der großen Doppeltür angekommen und drückte auf einen Knopf. Die beiden Türen schwangen automatisch auf. Das Dröhnen eines starten Motors war zu hören. In dem Raum dahinter befand sich eine große Maschine, die über mindestens zwei Etagen ging. Markus konnte, von seiner Zelle aus, das obere Ende nur erahnen. Die Krankenschwestern fuhren die Tragen mit den Säuglingen bis zu einem Lift und hakten die erste Trage daran ein. Sie fuhr nun, an der mit Plexiglas verkleideten Apparatur vorbei, bis zu einer Plattform auf der 2. Etage. Markus konnte den alten Mann sehen, wie er den ersten Korb von der Trage nahm und das Baby durch eine Klappe an der Seite in einen schräg abfallenden Trichter kippte. Unten angekommen ging eine Schranke auf und das Kind wurde von rotierenden Klingen zerhäckselt. Das Blut spritze gegen das Glas und lief durch eine Rinne ab.
Zwei Tage waren vergangen, seit Markus die Entsorgung der Kinder mit angesehen hatte. Jede Nacht wachte er schweißgebadet auf und musste sich übergeben. Immer wieder sagte er sich, dass es ein schneller Tod für die Kinder war, aber er roch das Blut, hörte ihre Schreie und das Brechen der Knochen. Wieso war er überhaupt noch hier? Wann würde er drankommen? Ja, er würde durch einen einzigen Schuss in den Kopf getötet werden, aber wurde sein Körper dann auch in kleine Stücke gehackt? Er beruhigte sich mit dem Gedanken, dass er das nicht mehr fühlen würde. Seine trüben Gedanken wurden unterbrochen, als die rechte Tür aufging und die Wärterin hereinkam. „Du hast Besuch.“, bellte sie und winkte. Agnes betrat den Raum. Sie war jahrelang eine Kundin gewesen und auch zu einer Freundin geworden. Was wollte sie nun hier? „Hallo Markus.“, brachte sie etwas eingeschüchtert über die Lippen. „Agnes, sind Sie hier, um sich zu verabschieden?“ Es dauerte eine Weile, bis sie antwortete. Erst nach dem sie ein paar Mal tief eingeatmet hatte sagte sie: „Ich habe alle Hebel in Bewegung gesetzt und jeden Gefallen eingefordert den ich gut hatte, damit du nicht entsorgt wirst.“ Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. „Ich habe es geschafft! Du kannst als Kastrat bei mir in Dienst treten.“ Erwartungsvoll schaute sie Markus an, doch der war zu verwirrt, um in Freudentaumel auszubrechen. „Was ist ein Kastrat?“, fragte er daherschlicht. „Oh, natürlich, entschuldige bitte. Dein Penis wird entfernt werden, aber du lebst.“, wieder starrte sie ihn erwartungsvoll an, ohne eine Reaktion von ihm zu bekommen. Was sollte er sagen? Was war das für eine Wahl? Sein Leben lang war er Zeuger gewesen und jetzt sollte er ohne seinen Penis weiterleben? War da der Tod nicht besser? Nach einem weiteren Moment sagte sie: „Gut, Markus, es ist deine Entscheidung. Überleg es dir bis morgen.“
Daystory 15
Langsam schlich sie über den dunklen Parkplatz. Sie suchte ein ganz bestimmtes Auto. Natürlich fand sie es gleich und machte sich daran, die Bremsschläuche durchzutrennen. Dann versteckte sie sich, um zu sehen, wie er wegfuhr. Da kam er auch schon. Mit seinem aggressiven Gang und dem arroganten Gesichtsausdruck, erweckte er sofort wieder diesen Ekel in ihr.
Sie sah ihn einsteigen. Sah das Auto wegfahren und lief zur Straße. Sie sah mit Freude, wie das Auto die abschüssige Straße hinab und durch die Leitplanke raste…

Daystory 15
Sie öffnete die Augen. Eigentlich fühlte sie sich nicht wirklich besser, aber auf eine Art schien diese Vorstellung ihr dennoch zu helfen. Seit Wochen entwarf sie immer wieder diese Szene in ihrem Kopf. Es war gut sich diese Rache auszumalen, auch wenn sie keine Ahnung hatte, ob man Bremsschläuche so durchschneiden konnte. Oder ob sie überhaupt da waren, wo sie sich vorstellte sie durchschneiden zu können. Es war eine Fantasie, durch die sie mit ihrer Wut und Hilflosigkeit umgehen konnte. Ihr war natürlich klar, dass das weder ihr Gerechtigkeit bringen würde, noch ein anders Kind davor bewahren würde, dass er es verletzte.
Sie fragte sich wieder einmal, warum es soweit gekommen war. Und sofort kam ihr in den Sinn, dass es ihre Schuld war, aber das schüttelte sie wütend ab. Nichts gab jemandem das Recht einen anderen gegen ein Fenster zu werfen, oder den Kopf gegen die Wand zu schlagen, oder zu versuchen seine Brust zu zertreten. Wäre ihre Mutter nicht gerade noch rechtzeitig nach Hause gekommen und dazwischen gegangen, wäre sie vielleicht gar nicht mehr am Leben. Sie wusste nicht genau, was ihre Mutter dafür hatte aushalten müssen, denn sie hatte die Sekunden seiner Ablenkung genutzt, um einen ihrer Schuhe zu schnappen und zur Tür zu rennen. Vor Angst hatte sie kaum die Klinke herunterbekommen. Doch als er mit einem wutentbrannten Grinsen den Flur runterkam und ihr sagte, dass sie nicht mehr rauskommen würde, hatte sie es geschafft und war barfuß losgerannt.
„Weg! Wohin war egal, nur weg! Bloß nicht umsehen! Renn schneller!“ Es war, als würde sie wieder genau da sein. Sie spürte die Angst, dass er sie gleich erreichen und sie, an ihren Haaren, zurück in die Wohnung schleifen würde. „Bloß nicht die Treppen runterfallen! Renn schneller! Auf der Straße schreist du nach Hilfe!“ Sie hörte ihn hinter sich schnaufen, als sie die Haustür aufriss und weiterrannte. Wie nah war er gewesen? Panik machte sich in ihr breit, obwohl sie schon lange nicht mehr bei ihm wohnten. Er ihr schon lange nichts mehr antun konnte. Sie ging durch die leere Wohnung, um sich zu versichern, dass sie allein war. Würde sie sich je wieder sicher fühlen in einer Wohnung allein mit einem Mann? Würde sie sich sicherer fühlen, wenn ihre Mutter die Anzeige nicht zurückgezogen hätte und er bestraft worden wäre? Wieder kamen ihr Bilder von anderen Kindern in den Kopf, denen er das Gleiche antat, wie ihr. Sie verfluchte ihre Mutter für ihre Rückradlosigkeit. Sie verfluchte sich selbst, weil sie nicht alt genug war um selbst Anzeige stellen zu können.
Sie rannte barfuß die Straße runter und klammerte sich an den einen Schuh in ihrer Hand. „Schau dich nicht um! Renn weiter! Wohin? Carmen! Renn schneller!“ Als ihre Mutter sie am nächsten Tag bei ihrer besten Freundin abholte, bestand sie darauf zur Polizei zu gehen. So vehement, dass ihre Mutter schließlich einwilligte. „Du musst dich bitte ausziehen“, hatte der Arzt sie gebeten. Er war sehr nett und versuchte ihr das Gefühl zu geben, dass er ihr helfen würde. Sicher hatte er das auch gewollt, genauso wie der Polizist, der sie befragt hatte. Und sie hatte es geglaubt. Hatte die Erlebnisse wieder und wieder durchgemacht, während sie sie ihnen schildern musste. Und wofür? Er lief frei herum. Ja er hatte in eine andere Stadt umziehen müssen, weil hier jetzt jeder wusste, was er gemacht hatte. Aber er lebte sein Leben einfach weiter. Er würde sich eine neue Frau suchen. Vielleicht hatte die auch ein Kind und wenn es nur einmal widersprach… Vielleicht hatte es dann nicht so viel Glück wie sie…
Sie hörte wie sich der Schlüssel im Schloss bewegte. Sie griff instinktiv nach ihrem Butterfly, dann sah sie auf die Uhr. Ihre Mutter kam nachhause. Sie legte das Messer weg und ging in die Küche. „Hör auf dreimal abzuschließen?“, motzte ihre Mutter sie an.
„Du weißt, warum ich das mache!“, erwiderte sie und ging zurück in ihr Zimmer. Ihre Mutter fing wieder mit den üblichen Tiraden an, dass sie doch alles getan hätte, um sie zu beschützen. Dass sie sich nicht so anstellen soll. „Wir sind doch ausgezogen. Du hast bekommen was du wolltest. Ich bin wieder allein und nur für dich da.“, wetterte sie.
„Für mich da? Wann warst du denn jemals für mich da? Du brauchst mich doch nur um mit meinen Leistungen anzugeben. Darum bist du auch dazwischen gegangen, denn ich bin dir scheißegal!“, fauchte sie zurück „Du hast die Anzeige zurückgezogen, welche Mutter macht das, wenn ihr Kind von so einem Arschloch fast Totgeprügelt wurde?“
„Du bauscht immer alles so auf…“, wollte ihre Mutter schon wieder relativieren. „Er wollte mir meinen Brustkorb zertreten, als du reinkamst.“, schrie sie ihrer Blindheit entgegen.
„Und ich habe ihn davon abgehalten.“, verteidigte sich ihre Mutter weiter.
„Super, danke schön“ Und jetzt rennt er los und sucht sich die nächste verzweifelte Mutter, die denkt, dass sie ohne Mann nix kann und prügelt deren Kind. Nur weil du was? Bloß kein Getratsche haben willst? Stell dir vor, die tratschen alle schon! Und du stehst nicht gut dabei da.“ Leider stand sie selbst auch nicht gut dabei da, denn Carmen redete nicht mehr mit ihr. Ihre Klassenkameraden mieden sie und selbst im Handballtraining wollte ihr niemand die Bälle zuspielen. Niemand fragte sie, was passiert war. Keiner wollte wissen, wie sie es erlebt hatte. Alles lief hinter vorgehaltener Hand. Sie hoffte einfach, dass seine Verurteilung das alles beenden würde.
„Ich weiß, dass sie tratschen, wir wohnen nun mal in einem kleinen Kaff. Was willst du jetzt machen? Menschen tratschen immer.“, entgegnete ihre Mutter entnervt. Sie hatte sicher viele Kommentare auf der Arbeit einstecken müssen. Aber das war ihr egal, denn sie hatte keine Lust darauf die verständnisvolle Tochter zu spielen. „Weißt du, wann sie aufhören zu tratschen? Wenn dieser Penner hinter Gittern sitzt! Und weißt du, was das andere Gute daran ist?… Er tut das keinem anderen Kind mehr an, denn welche Mutter ist schon so dumm, sich mit so einem einzulassen. Außer du vielleicht“, wütend funkelte sie ihre Mutter an und erwartete die üblichen Rechtfertigungen, Zurechtweisungen und Relativierungen, die sie bei den täglichen Streitereien immer anbrachte. Aber ihre Mutter atmete tief durch.
„Er wird nie wieder ein Kind schlagen!“ Ungläubig schaute sie ihre Mutter an, die fortfuhr: „Er ist Querschnittsgelähmt und sitzt im Rollstuhl.“ Hatte sich da ein Lächeln auf das Gesicht ihrer Mutter geschlichen? „Du willst mich verarschen!“, protestierte sie deshalb, doch ihre Mutter zog die Regionalzeitung aus ihrer Tasche. Sie las:
Letzte Nacht fuhr K. Precht mit seinem Wagen auf der abschüssigen Straße… durch die Leitplanke … lebensgefährliche Verletzungen der Halswirbelsäule… dauerhaft gelähmt… funktionierten die Bremsen nicht…menschliche Einwirkung wird ausgeschlossen… möglicherweise Marder die…
Daystory 16
„Weiser Fest, du musst Aufwachen wir sind da“ die junge Fahrerin des Busses rüttelte sanft an Fests Arm. Langsam kam der alte Mann zu sich, schüttelte ein wenig den Kopf um sich klar darüber zu werden, wo er sich im Moment überhaupt befand, bis ihm wieder einfiel, dass er zur Nachbarkommune unterwegs gewesen war, um seinen alten Freund Denkt wie ein Elefant zu besuchen und in Verhandlungen mit ihm zu treten.

Was wäre wenn 2
„Fest mein Freund.“ Kaum hatte Fest, mit Hilfe seines jungen Begleiters, den Bus verlassen stand auch schon Denkt vor ihm, griff mit seiner mächtigen Hand nach der von Fest und schüttelte sie ausgiebig. Dabei hatte er ein breites Grinsen auf dem Gesicht. „Du hast also ein Problem, bei dem ich dir helfen kann?“ Herzlich legte er seine andere Hand auf Fests Schulter und schob ihn langsam Richtung Gemeindehaus. Fest mochte Denkt, aber manchmal gestalteten sich die Verhandlungen über die Zusammenarbeit der beiden Kommunen etwas schwierig mit ihm. Fest hatte stets das Gefühl Denkt würde ihm nicht vertrauen und er verstand nicht ganz warum. Natürlich war alles was ein Gemeindeältester versuchte zu bewirken stets zum Wohle seiner eigenen Gemeinde gedacht, aber hatten sie nicht schon lange verstanden, dass sie als Kommunen ohne einander nicht existieren konnten? „Ist das dein Nachfolger?“, fragte Denk mit einem neugierigen Blick auf den jungen Mann, der ihnen in etwas Abstand folgte. Fest schüttelte mit einem Lächeln den Kopf. „Denk, mein Freund, wir regeln die Nachfolge als Gemeindevertreter mit einer Wahl. Ich habe darauf keinen Einfluss, außer, dass ich möglichst vielen Mitgliedern der Gemeinde die Möglichkeit gebe, an meinen Verhandlungen teilzunehmen. Wir denken so lässt sich der richtige Gemeindevertreter finden.“, Fest hatte versucht es möglichst gleichgültig zu sagen, auch wenn er sehr stolz auf seine Gemeinde und deren Interesse an den Entscheidungen für die Gemeinschaft war, aber dennoch erntete er einen ernsten Blick, in dem auch ein wenig verletztes Ehrgefühl mitschwang, von Denk. Deshalb setzte er nach: „Ihr habt einen anderen Weg für euch gewählt und kommt damit ebenfalls gut zurecht.“ Beide Männer atmeten tief ein und gingen schweigend weiter.
„Wir möchten dir gerne helfen, Fest, aber wir müssen wirklich besser aushandeln, was für uns dabei herausspringt.“ Die beiden Männer betraten das Gemeindehaus. Es hatte sich viel verändert seit Fest das letzte Mal hier gewesen war. Und doch erkannte er viele neue Sachen wieder, standen sie doch auch in ihrem Gemeindehaus. Fest hatte sie in Verhandlungen mit anderen Kommunen für sie beide eingetauscht. „Erzähl mir Fest, was ist das für ein Problem das du hast? In deinem Brief warst du nicht sehr konkret.“ Die beiden setzten sich auf den flauschigen Teppich, auf dem bereits ein großes Tablett mit einem üppigen Frühstück stand. Fest hörte seinen Magen knurren, denn er war heute Morgen schon sehr zeitig aufgestanden, um die Vorbereitungen für die Verhandlungen zu treffen. Deswegen war er bestimmt auch im Bus eingeschlafen, obwohl die Fahrt zur Nachbarkommune mit dem Wasserbus lediglich eine halbe Stunde dauerte.
Während er sich also ein Brötchen belegte begann er: „Mein Freund, wie du weißt, haben wir eine Menge intelligenter, tüchtiger und schöner Töchter. Leider fehlt es unserer Kommune an jungen Männern, die mit ihnen eine Familie gründen können. Hmm, das ist wirklich ein sehr guter Käse.“ Auch Denkt war mit seinem Essen beschäftigt und richtete seinen Blick darauf als er antwortete: „Ja, ein junger Mann macht ihn seit einiger Zeit, wir sind sehr stolz auf ihn.“
„Und ist er schon verliebt in eine junge Frau?“, fragte Fest ganz nebenbei. Denkt knallte sein Messer auf das Tablett und starrte Fest an, der nun auch aufsah. Die Blicke der Männer trafen sich und jeder versuchte den anderen einzuschätzen. Denkt nahm sein Messer wieder auf und sagte ebenfalls beiläufig: „Nein, du kannst ihm ja die Mädchen mal vorbeischicken, vielleicht gefällt ihm ja eine.“ Fest schluckte, ganz so hatte er sich das nicht vorgestellt, aber möglicherweise konnte er die Wogen durch seinen Vorschlag glätten.
„Nun, ich hatte eher daran gedacht, dass wir, also unsere beiden Kommunen ein Fest veranstalten, wo sich die jungen Leute kennenlernen können. Und vielleicht laden wir noch die Jugend von Auwick, Bergtaal und Flußeck dazu ein.“, begann er deshalb vorsichtig. Denk überlegte und kaute gemütlich aus, bevor er sagte: “Du bist ein cleverer Gesell, Fest, wir haben die Wasserbusse gemeinsam entwickelt und dennoch stellt eure Gemeinde sie her und bekommt die Tauschwaren…“ Er setzte den Satz nicht fort, da Fest ein leichtes Schnauben verlauten lies und ihn breit anlächelte. Fest nutzte die Pause um ein weiteres Mal von seinem Brötchen abzubeißen und gab Denk mit einer Geste zu verstehen, dass er doch fortfahren solle. „Was ich meine ist, dass, wenn ich zustimme, wir ganz genau aushandeln müssen, wo die jungen Paare leben werden.“, beendete Denk seinen Satz langsam. „Haben die jungen Leute denn auch etwas dazu zu sagen?“, fragte Fest scharf. Es mochte in Denks Kommune üblich sein, dass er als Ältester die abschließenden Entscheidungen allein traf, aber in Fests Kommune wurde darüber abgestimmt. Beschwichtigend setzte er nach: „Wie viele Häuser hast du denn frei und wie viele junge Männer und Frauen?“ Denk winkte seiner Assistentin zu, die mit Fests jungem Begleiter mit etwas Abstand links von Ihnen Platz genommen hatte und sich beständig Notizen machte. Sie stand auf und eilte aus dem Raum. Fest kannte sie schon von vorherigen Verhandlungen und wusste, dass sie Denks Nachfolgerin sein würde.
„Es wird einen Moment dauern, um die Liste zusammenzustellen.“, meinte Denk. Fest nickte und schlug vor: „Dann können wir solange über einen weiteren Vorschlag, den ich dir machen möchte reden.“ Überrascht und auch skeptisch sah denk erst ihn an, dann in die Richtung in die seine Nachfolgerin verschwunden war. „Schneller Stern wird dir eine wortgetreue Abschrift fertigen.“ Der junge Mann blickte von seinen Notizen auf und nickte. „Wie du gerade erwähnt hast, fertigen wir die Busse, aber nun, da immer mehr Kommunen von ihnen erfahren, kommen wir kaum mit der Fertigung nach. Wenn ihr jetzt ebenfalls anfangen würdet sie zu bauen, würdet ihr uns wirklich eine große Hilfe sein. Unsere Technikerinnen möchten gerne auch wieder etwas freie Zeit haben, um neue Dinge zu entwickeln, was auch immer sie sich vorstellen, du kennst die jungen Leute ja…“, Fest ließ dabei aus, dass er vorhatte interessierte Techniker aus den anderen Kommunen zu unterrichten, wie die Busse gemacht und repariert wurden. Damit wollte er warten, bis Denk verstand, dass sie allein das Interesse an den Bussen nicht abdecken konnten.
„Wie soll das gehen? Wir haben nicht die nötigen Rohstoffe oder die geübten Techniker dafür.“, gab Denk zu bedenken. „Nun, ich dachte mir, dass ihr erst einmal 2 weitere Busse von uns bekommt und dann in Richtung Westen und Norden Verhandlungen über die Rohstoffe führt, wobei wir weiterhin Lieferungen aus Osten und Süden verwenden. Und ein paar meiner Technikerinnen haben mir gegenüber geäußert, dass sie sehr gerne bei euch Vorbeischauen, für einige Zeit, oder vielleicht auch für immer.“, Fest zwinkerte dem erstaunten Denk zu.
Nachdem sie fertig gefrühstückt hatten, machten sie einen Spaziergang durch die Kommune. „Ich schätze wir sollten uns daran machen eine Halle für die Fertigung zu bauen und… äh nun ja, vielleicht schickst du mir eine Liste mit den …“, begann Denk, als Schneller Stern sich hinter ihnen räusperte. Die beiden Männer drehten sich um und Denk nahm einen Zettel entgegen, den er erstaunt überflog. Dann sah er Fest grinsend an und meinte: “Du cleverer Gesell…“