Hier der Anfang des 2. Kapitels von Annales nuntius lux
„Mîned, Ûhraus, wo seid ihr?“, rief Balia, während sie den Flur entlang lief. Wo steckten die beiden nur? Als sie sich vor einer Weile in ihr Zimmer zurückgezogen hatte, um ein paar Augenblicke ihren ältesten Sohn zu beobachten, hatte sie schon ein schlechtes Gewissen gehabt. Dann hatte sie jedoch die Zeit vergessen und als sie schließlich wieder in den Saal kam, waren die beiden Kinder nicht mehr in der Spielecke. Als sie um die nächste Ecke bog, sah sie die beiden vor zwei toten Drohnen stehen. Ûhraus rannte ihr weinend entgegen und warf sich in ihre Arme. „Die Puppen sind kaputt gegangen.“, schluchzte er. Seine Mutter brauchte einigen Momente um zu verstehen, dass er mit den Puppen die toten Wachen meinte. Mit dem Jungen auf dem Arm trat sie näher an die Leichen heran und zog die Tochter des Herrschers beiseite, denn diese war gerade damit beschäftigt den Arm einer der Toten immer wieder anzuheben und fallen zu lassen. Erstaunt sah die Kleine zu ihrer Amme auf: „Warum bewegen sie sich nicht mehr alleine?“
„Nun ja mein Schatz, du musst verstehen, dass die Wachen keine Spielzeuge sind. Sie sind Menschen, so wie wir.“, mit der Hand zeigte Balia das sie damit sich selbst und ihren Sohn meinte. Das kleine Mädchen schaute sie ungläubig an: „Nein, das kann nicht sein. Die Puppen machen immer was ich will und sie sagen nur was ich will. Ihr seid ganz anders.“ Unschlüssig schaute die Amme auf die Fünfjährige herab. Als sie entschieden hatte, was sie jetzt tun wollte atmete sie tief ein, setzte ihren Sohn ab, ging zu einer Drohne und hob das Visier an. Das Gesicht, das darunter zum Vorschein kam, gehörte einer jungen Frau. Sie mochte so etwa fünfundzwanzig gewesen sein. Ihre Augen standen weit offen und starrten Balia an. Selbst im Augenblick ihres Todes schien sie keine Angst, oder irgendwelche anderen Emotionen, gehabt zu haben. Zumindest war weder in ihren Augen, noch in ihrem Gesicht, irgendein Ausdruck zu erkennen. „Bitte, ihr beide, kommt her!“, bat Balia die Kinder. Als die beiden näher traten, legte sie die Arme um sie. „Seht ihr zwei das? Das ist ein Gesicht, sowie unsere Gesichter. Unter dem Anzug ist ein Körper, sowie unsere Körper. Ich möchte das ihr versteht, dass die Wachen zwar anders sind als wir, aber dennoch sind sie Menschen. Sie leben, sie atmen, sie essen und sie sterben. Vielleicht hatte sie Familie, ein Kind, das nun keine Mutter mehr hat.“, erklärte sie den Kindern. Natürlich war ihr wohl bewusst, dass Palastwachen keine Familie und keine Kinder hatten, aber sie wollte ihren zwei Sprösslingen eine kleine Lektion erteilen. Niemals würde sie zulassen, dass einer der beiden das Leben eines anderen Menschen als wertlos betrachtete. Und gerade weil Mîned die Tochter des Herrschers war, musste sie bei ihrer Erziehung darauf achten, dass sie nicht rücksichtslos und selbstsüchtig wurde, wie ihr Vater. Noch immer ungläubig befreite sich Mîned aus dem Arm ihrer Ziehmutter und trat an die zweite Leiche heran, unter deren Visier das Gesicht einer Frau zu erkennen war, die etwa in Balias Alter gewesen sein musste. Vorsichtig schob das kleine Mädchen das Visier hoch und betastete das Gesicht. Als sie die Wärme auf der Haut spürte, zog sie erschrocken die Hand zurück.